Seite - 290 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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notiert; âschlieĂlichâ, so Unseld weiter, âaus Verehrung fĂŒr Thomas Wolfe und
Faulkner, begann er zu schreiben.â Knapp zwei Jahre vor Erscheinen von Die
Ursache (1975), der ersten autobiographischen ErzÀhlung, berichtete Bernhard
dem Verleger bei einem Abendessen mit âMeraner Rotweinâ ĂŒber die Geschichte
seiner âganz und gar unmöglichen Familieâ, ĂŒber âHerkommenâ und âAufwach-
senâ, aber auch ĂŒber die ersten Schritte auf dem Weg zur Autorschaft.62 Unselds
Notiz aus dem Jahr 1973 ist deshalb beachtenswert, weil Bernhard zwar seine
Arbeit als Gerichtssaalreporter bei mehreren Gelegenheiten â und mit einem
gewissen StolzÂ
â als wichtige âSchuleâ (TBW 22.2, 44) und als Experimentierfeld
des literarischen Schreibens bezeichnet,63 sich ĂŒber seine TĂ€tigkeit als Literatur-,
Kunst-, Film- und Theaterkritiker im Salzburg der frĂŒhen 1950er Jahre aber nie
öffentlich geĂ€uĂert hat.64 Die Hinweise auf seine âZeitungsgâschichtâlnâ 65 in Inter-
views und in der autobiographischen Pentalogie beschrÀnken sich auf die Arbeit
als Gerichtsreporter und einen im Januar 1952 veröffentlichten Bericht ĂŒber ein
Salzburger FlĂŒchtlingslager (vgl. TBW 22.1, 10 â 12, bzw. 22.2, 112 u. 336). Wenn
in Der Keller (1976) vom Demokratischen Volksblatt die Rede ist, dann nur mit
Blick auf âZustĂ€ndeâ in der Scherzhauserfeldsiedlung, deren unterprivilegierte
Bewohner ihm Anfang der 1950er Jahre am Salzburger Gericht als Angeklagte
und Zeugen wieder begegnet waren (TBW 10, 119 f.).
Diese gezielte Selektion, die durchaus als werkpolitische Intervention im
Sinne der Rezeptionssteuerung zu begreifen ist, lĂ€sst sich schon frĂŒh beobach-
ten: Hatte Bernhard 195466 in einem Begleittext zu seiner ersten Publikation im
Wiener Jahrbuch Stimmen der Gegenwart noch angefĂŒhrt, er habe âzuletzt auch
als Kunstkritiker einer Tageszeitungâ gearbeitet,67 wurde diese Informationen
zwei Jahre spĂ€ter, als er die ErzĂ€hlung Der SchweinehĂŒter in dem von Hans
Weigel begrĂŒndeten Periodikum veröffentlichte, bereits ausgespart: Er habe,
62 Unseld: Bericht Thomas Bernhard, 8./9. November 1974 [recte: 1973] Salzburg. In: Bernhard/
Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 36), S. 406.
63 Ob sich Bernhards âtodesfixierte Schreibweiseâ jedoch tatsĂ€chlich âder Arbeit als Lokaljour-
nalist und Gerichtsreporter im Salzburg der 1950er Jahreâ âverdanktâ, wie Markus Janner: Der
Tod im Text (Anm. 9), S. 105, vermutet, scheint mir fraglich. Vgl. auch ebd., S. 112 â 115.
64 Vgl. Dittmar: Zwischen Paris-Lodron-StraĂe und Kajetaner Platz (Anm.Â
47), S.Â
16 f.: âWenn von
seiner journalistischen Laufbahn die Rede ist, dann ist immer von den Gerichtssaalberichten
die Rede.â Vgl. auch Klug: Thomas Bernhards Arbeiten (Anm.Â
28), S.Â
137, der hervorhebt, dass
Bernhard âseine sonstigen journalistischen und literarischen Arbeiten stets verschwiegen hatâ.
65 Hofmann: Aus GesprÀchen mit Thomas Bernhard (Anm. 42), S. 45.
66 1952 waren die von ihm eingereichten Gedichte noch abgelehnt worden. Vgl. Evelyne Polt-
Heinzl: Thomas Bernhard betritt die Wiener Szene oder Ăber Dissonanzen in Hans Weigels
Stimmen der Gegenwart. In: Sprachkunst 46 (2015), H. 1, S. 51 â 70, hier S. 64 f.
67 [Biographische Angaben]. In: Stimmen der Gegenwart 1954. Hg. v. Hans Weigel. Wien: Albrecht
DĂŒrer 1954, S.Â
259. In diesem Band wurde Bernhards ErzĂ€hlung GroĂer, unbegreiflicher Hunger
gedruckt (ebd., S. 138 â 143).
âZeitungsgâschichtâlnâ: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker290
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471