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heißt es nun sehr viel ungenauer, „[v]on 1952 bis 1955 als freier Schriftsteller“
gearbeitet.68 In einem Mitte 1956 veröffentlichten Heft der Zeitschrift Wort in
der Zeit war freilich noch zu lesen, „Thomas Niklas Bernhard“ habe sich „unter
anderem als Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker verschiedener Zeitungen“
verdingt,69 wobei die Liste der angeführten Tätigkeiten wohl zuallererst der Lust
an der Alliteration und weniger der biographischen Faktenlage geschuldet war.
Während er seine Arbeit als Berichterstatter im Salzburger Gericht wiederholt
thematisiert, ja ihr eine wichtige Rolle für seine Initiation als Schriftsteller zuge-
schrieben hat, kommen die namentlich bzw. mit Initialen gezeichneten Beiträge
für das Demokratische Volksblatt, später für die Salzburger Nachrichten und die
Wiener Wochenzeitung Die Furche in seinen späteren Selbstauskünften nicht
mehr vor. So gibt etwa die 1970 im Suhrkamp-Band Über Thomas Bernhard
gedruckte „Vita“ des Autors lediglich an, er habe „bis 1955“ als „Gerichtsrepor-
ter des sozialistischen Demokratischen Volksblatt [sic]“ gearbeitet.70 Von seiner
Tätigkeit als Literatur- und Kulturkritiker, als Feuilletonist und Berichterstatter
von Lesungen, Volksfesten, Vorträgen, Brauchtumsveranstaltungen, Musik- und
Theateraufführungen, ist in diesem von Anneliese Botond herausgegebenen
Band nichts zu finden.
Als 1963 mit Frost Bernhards erstes Prosabuch im Frankfurter Insel Verlag
erschien, war auf dem Umschlag prominent zu lesen, der Autor habe vier Jahre
lang „als Gerichtsberichterstatter“ gearbeitet:71 eine Information, die sich auch
68 [Biographische Angaben]. In: Stimmen der Gegenwart 1956. Wien, München: Herold 1956,
S. 265.
69 Unsere Autoren. In: Wort in der Zeit 2 (1956), H.
6, S.
63 – 64, hier S.
63. Zu Bernhards wechseln-
den Angaben vgl. Polt-Heinzl: Thomas Bernhard betritt die Wiener Szene (Anm.
66), S.
68 f., zu
seinen Publikationen in den Stimmen der Gegenwart auch Wieland Schmied: Auersbergers wahre
Geschichte und andere Texte über Thomas Bernhard. Ein Alphabet. Vorwort v. Hans Höller.
Weitra: Bibliothek der Provinz [2014], S.
41 f.
– In einem Tagebucheintrag vom 22. 7. 1956 notierte
Gerhard Fritsch: „Bernhard will sich jetzt Th. Haarlem nennen, in ‚Wort in der Zeit‘
[…] heißt
er Thomas Niklas Bernhard über einigen Gedichten. Und in der Biographie ist er schmockant
wie nur. Mich stört das; alles Attitüde.“ (Gerhard Fritsch: Man darf nicht leben, wie man will.
Tagebücher. Hg. u. mit einem Nachwort v. Klaus Kastberger. Transkription u. Kommentar:
Stefan Alker-Windbichler. Salzburg, Wien: Residenz 2019, S. 46)
70 Vita. In: Über Thomas Bernhard. Hg. v. Anneliese Botond. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 21970,
S.
142 – 143, hier S.
142. Auf diese Aufstellung weist auch Habringer: Der Auswegsucher (Anm.
26),
S. 33, hin, verzeichnet sie aber sinnwidrig als eine „von Bernhard verfaßte Vita von 1955“.
71 Thomas Bernhard: Frost. Frankfurt a. M.: Insel 1963, Klappentext. Mit den dort gestreuten
Informationen, er sei „als Bibliothekar an einem Kulturinstitut in London“ beschäftigt gewe-
sen und habe sein Studium am Salzburger Mozarteum 1957 „mit einer vergleichenden Arbeit
über Bertolt Brecht und Antonin Artaud“ abgeschlossen, etablierte Bernhard mithilfe von
Wieland Schmied eine biographische Legende, die in der Folge weiter tradiert wurde. Vgl. dazu
Habringer: Der Auswegsucher (Anm. 26), S. 37; Gitta Honegger: Thomas Bernhard. „Was ist
„Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 291
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471