Seite - 294 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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„Sagen Sie, wovon leben heute unsere Dichter?“, fragte neulich eine bekannte Dame.
Freilich konnte ich nicht gleich antworten, aber ich hatte Gelegenheit, Bekanntschaft
zu machen mit einigen dieser jungen Träger der österreichischen Kultur. Und tatsäch-
lich, sie sind Träger. Jeder einzelne trägt schwer, aber nicht nur Kultur allein, sondern
mit größter Ausdauer einen Berg von Alltagssorgen auf seinem Rücken. Die „Kunst“
der kunstbegeisterten Männer und Frauen besteht meist darin, sich von einem Tag
zum andern am Leben zu erhalten. Hier ist man oft glücklich bei Wassersuppe und
trockenem Brot, mit geflickten Hemden und durchlöcherten Schuhen. (TBW 22.1, 13)
Viele junge Autorinnen und Autoren hausten, so Bernhard, unter unwürdigen
Bedingungen; von seinem einstmals romantischen Bild vom Beruf des Schrift-
stellers habe er sich, so heißt es in dem Junge Dichter in Österreich betitelten
Beitrag, verabschieden müssen.79 Zudem sei angesichts der schwierigen öko-
nomischen Situation vieler Kunstschaffender ein veritabler brain drain in die
deutschsprachigen Nachbarländer zu beobachten:
[D]eshalb ist es nicht verwunderlich, trotz allen schweren Kämpfen unseres kleinen,
wirtschaftlich nicht am besten fundierten Staates, wenn manche, diese ohnehin zähen
Künstlernaturen, nach Deutschland oder der nahen Schweiz abwandern, wo man
ihnen Brot und Mut gibt. Diese Art des Abschiebens geistig arbeitender Persönlich-
keiten, seien es nun Dichter, Schriftsteller, Komponisten, Maler oder Wissenschaftler,
die schon zu einer dauernden Einrichtung geworden zu sein scheint, wirft kein gutes
Licht auf unser Land und es ist beschämend für uns, daß man die, in der Ferne oft-
mals zu Ruhm und Anerkennung gelangten Österreicher, später mit Geschrei und
Posaunen empfängt. (TBW 22.1, 14)
Umso erstaunlicher sei, dass es weiterhin unbeirrbare Idealisten gebe
– die Situa-
tion unter den „Dichtern“ bezeichnet Bernhard als besonders schlimm
–, die sich
neben ihren Brotberufen als „Straßenkehrer und Schneeschaufler“, als „Groß-
küchengehilfen und Kohlenschupfer“ noch ihrer Kunst widmeten; ihnen müsse
man, so das Plädoyer des erst 20-jährigen Journalisten, der hier ganz offensicht-
lich auch pro domo spricht, „hilfreich unter die Arme
[…] greifen“ (TBW 22.1, 15).
Während Bernhard später aus der Position des privilegierten und ökono-
misch abgesicherten Autors vehement gegen jede „Subvention“ und „Förderung
künstlerischer Belange“ (TBW 22.2, 269 f.) Stellung bezogen hat,80 setzte er sich
79 Vgl. jedoch Moritz: Lehrjahre (Anm. 44), S. 155, der Bernhards Rechercheaufwand stark in
Zweifel zieht: „In dieser Philippika für die Jugend, in seiner Beweisführung vor allem, schöpft
Bernhard aus eigenem Empfinden und eigenen Erfahrungen mehr als aus objektiven Fakten.“
80 Die Aussagen stammen aus einem Gespräch mit Krista Fleischmann aus dem Jahr 1984. Dort
heißt es weiter: „Ist ja in einem Satz gesagt: Alles abschaffen, was Subvention und Förderung
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker294
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471