Seite - 298 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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der âKunst- oder Literaturkritikerâ, so Jens Dittmar, vor allem âein Reporter, der
sich weitgehend auf das Was, Wann und Wo beschrĂ€nken muĂteâ.89 Christian
Klug hat zudem hervorgehoben, dass der Nachwuchsrezensent von der Redak-
tion des Demokratischen Volksblatts meist âzu den eher zweitrangigen Kultur-
ereignissen geschicktâ wurde,90 wĂ€hrend die attraktiveren kulturellen Termine
den arrivierten Kollegen, etwa dem in Bernhards Der Keller (1976) portrÀtierten
Musikkritiker Theodor W. Werner, vorbehalten waren.
Werner, der Musikwissenschaftler aus Hannover,Â
[âŠ] ging nach jedem Konzert an den
spÀteren Nachmittagen mit einer feinsÀuberlich mit der Hand geschriebenen Kritik,
mit einem kleinen Meisterwerk, wie ich heute weiĂ, aus der Pfeifergasse ĂŒber den
Mozartplatz und durch die Judengasse und ĂŒber die StaatsbrĂŒcke und in die Paris-
Lodron-StraĂe in die Zeitungsredaktion des Demokratischen Volksblatts, das seine
Gedanken, die immer die auĂerordentlichsten Gedanken gewesen sind, abdruckte. Er
war nichts weniger als ein Musikwissenschaftler und Philosoph, was die Redakteure
und die Leser des Demokratischen Volksblatts, der einzigen sozialistischen Tages-
zeitung in der Stadt, zwar hochgeschÀtzt, aber niemals begriffen haben. (TBW 10, 197)
WÀhrend Bernhard in den autobiographischen ErzÀhlungen davon berichtet,
dass er auf Anregung des GroĂvaters âNovalis, Kleist, Hebel, Eichendorffâ, ja
âShakespeare und Stifterâ gelesen habe (TBW 10, 284 u.Â
299), widmen sich viele
Artikel im Demokratischen Volksblatt BĂŒchern bzw. Autorinnen und Autoren, die
heute kaum mehr bekannt sind, darunter Karoline Brandauer, Alfons Czibulka,
Georg Eberl, Eduard C. Heinisch, Loni Seitz-Ransmayr und Kurt Ziesel. GroĂe
Teile der von Bernhard rezipierten und besprochenen Literatur, etwa Theodor
Renzls Hoamatliab (1951) oder Lorenz Macks Das GlĂŒck wohnt in den WĂ€ldernâŠ
(1952), dessen ânatĂŒrliche, wahrhaft menschliche Stimmeâ er schĂ€tzte (TBW 22.1,
89), sind jener literarischen Strömung der Nachkriegszeit zuzurechnen, die âBil-
der der Einheit, der Ruhe, Geborgenheit und StabilitĂ€tâ entwarf und den Verfah-
ren und Sujets der literarischen Moderne fern stand.91 Hatte Ernst Schönwiese im
Salzburg der unmittelbaren Nachkriegszeit die 1935/1936 begrĂŒndete Zeitschrift
Beifallâ (TBW 22.1, 323); âDie Zuhörer dankten den beiden Vortragenden herzlichâ (TBW
22.1, 326); âDas zahlreich gekommene Publikum dankte Georg Eberl mit herzlichem Applausâ
(TBW 22.1, 367) etc.
89 Jens Dittmar: Thomas Bernhard. Reporter. In: Aus dem Gerichtssaal (Anm. 43), S. 259 â 278,
hier S. 276. Billenkamp: Thomas Bernhard (Anm. 14), S. 59, hat auĂerdem zu bedenken gege-
ben, dass Bernhards BeitrĂ€ge im Demokratischen Volksblatt stets âvon den verantwortlichen
Redakteuren nachtrĂ€glich redigiert worden sindâ und der Anteil der sprachlichen und inhalt-
lichen Ăber- und Umarbeitungen nicht mehr zu ermitteln ist.
90 Klug: Thomas Bernhards Arbeiten (Anm. 28), S. 144.
91 MĂŒller: Die Bannung der Unordnung (Anm. 32), S. 187.
âZeitungsgâschichtâlnâ: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker298
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471