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Rezensent in der Folge anstellt, mutet mehr als fragwürdig an, zieht man in
Betracht, dass Grogger und Nabl im NS-Literaturbetrieb durchaus hatten reüs-
sieren können:132 „Es scheint auf den allerersten Blick, als wären unserer Dichter,
unsere wirklichen Dichter, ausgestorben. Als hätte man ihre Bücher auf einem
allgemeinen Scheiterhaufen (wie schon einmal) verbrannt.“ (TBW 22.1, 168) Als
er drei Tage später in einer kurzen Notiz im Demokratischen Volksblatt jubiliert,
weil die Buchhandlung Höllrigl als Reaktion „auf unseren montägigen Artikel“
den österreichischen Autorinnen und Autoren ein eigenes Schaufenster gewidmet
hatte, konstatiert der Journalist: „Man hat sie also nicht samt und sonders ver-
brannt.“ (TBW 22.1, 171) Bernhard wusste also, so hat es den Anschein, durchaus
über die Bücherverbrennung am Salzburger Residenzplatz Bescheid, identifizierte
mit Grogger und Nabl aber gerade die falschen Opfer des fünfzehn Jahre zuvor
vom Salzburger Lehrer und Schriftsteller Karl Springenschmid organisierten
Autodafés. Was hier als Einspruch gegen das „Übersehen[
] der österreichischen
Werke“ auftritt (TBW 22.1, 168), ist im Grunde Ausdruck einer fatalen Indiffe-
renz, die Bernhards Schreiben über belastete Autorinnen und Autoren in toto
kennzeichnet. Indem er die Buchhändler dazu auffordert, die „oft ahnungslosen
Käufer“ mit mehr Nachdruck auf die österreichische Literatur hinzuweisen (TBW
22.1, 169), erweist er sich selbst als in gewisser Hinsicht ahnungslos.133
Literatur- und ideologiegeschichtlich sind Bernhards kulturjournalistische
Anfänge jener spezifisch österreichischen ‚Restauration‘ zuzurechnen, die das
kulturelle Klima der Nachkriegszeit nachhaltig prägte. Hatte Otto Basil schon im
ersten Heft des PLAN im Oktober 1945 unter dem Titel Vom österreichischen NS-
Parnaß jene „großen und kleinen Schwätzer“ angeklagt, die sich als dienstbare
Kollaborateure des NS-Regimes erwiesen hatten,134 geriet diese kritische Position
in den folgenden Jahren rasch „unter die Räder des restaurativen Kulturbetriebs“.135
132 Vgl., um nur wenige Beispiele zu nennen, Paula Grogger: Haussegen. In: Bekenntnisbuch öster-
reichischer Dichter (Anm.
32), S.
46; Franz Nabl: Von der Einheit des deutschen Volkskörpers.
In: Heimkehr ins Reich (Anm.
125), S.
203. Dazu auch die Verzeichnisse in Müller: Zäsuren ohne
Folgen (Anm. 25), S. 319 – 329. Zu Nabls Verhalten im Dritten Reich vgl. Klaus Amann: Franz
Nabl – Politischer Dichter wider Willen? Ein Kapitel Rezeptions- und Wirkungsgeschichte.
In: K. A.: Die Dichter und die Politik. Essays zur österreichischen Literatur nach 1918. Wien:
Edition Falter/Deuticke 1992, S. 152 – 168.
133 Vgl. auch die folgenden Überlegungen in Wo sind die österreichischen Dichter?, in denen höchst
unklar bleibt, welche „vergangene[
] Zeit“ hier nun gemeint ist: „Dem heutigen Durchschnitts-
leser, der vielfach ein willenloses Opfer der vergangenen Zeit geworden ist, kann man nicht
allein Schuld an dieser ‚Krise‘ geben, denn er sieht seit Jahren nicht anderes mehr als eine Flut
von ausländischen Titeln, Autorennamen und Massenprodukten, deren Daseinsberechtigung
nur in den seltensten Fällen erwiesen scheint.“ (TBW 22.1, 169)
134 Otto Basil: Vom österreichischen NS-Parnaß. In: PLAN 1 (1945), H. 1, S. 72 – 76, hier S. 72.
135 Strigl: Spurensicherung (Anm.
33), S.
76. Vgl. dazu auch Klaus Amann: Zahltag. Der Anschluß
österreichischer Dichter an das Dritte Reich. [1988] Bodenheim: Philo 21996, S. 208 f.
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker308
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471