Seite - 312 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Zweig auch Texte zahlreicher ehemaliger Nationalsozialisten enthielt, darunter
erneut Blaas, Deißinger und Waggerl, darüber hinaus Franz Karl Ginzkey, Max
Mell und Josef Weinheber. In Bernhards Bericht von der Präsentation des Ban-
des im Rahmen der Salzburger Buchwoche stehen Weinheber und Deißinger
kommentarlos neben dem Exilanten Haringer. Die in der Anthologie versam-
melten Gedichte seien zwar formal nicht immer „vollendet“, aber, so Bernhards
beschwichtigende, die historischen Verwerfungen großzügig ignorierende
Schlussformel, „letzten Endes sind wir, die Salzburger nämlich, doch bei Georg
Trakl zu Hause“ (TBW 22.1, 91). Eine Fortsetzung des Bandes unter dem Titel
Das schöne Land war in Planung, wurde aber nicht realisiert
– Bernhard berich-
tete am 7. Oktober 1953 im Demokratischen Volksblatt, dass dafür Texte von
Richard Billinger, Hans Carossa, Paula Grogger, Franz Tumler, Josef Weinheber
und Linus Kefer, dem ehemaligen Leiter der Reichsschrifttumskammer im Gau
Oberdonau, vorgesehen waren.
Die im großen und ganzen glücklich gewählte Auswahl erfreute die Anwesenden,
stimmte sie heiter und nachdenklich und erweckte vor allem den Eindruck, daß die
Lyrik, in unserer Zeit mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, durchaus nicht
ausgestorben ist. Dem Herausgeber kann man nur für seine Tatkraft danken und ihn
würdigen, indem man ihm Mut zuspricht, das schon so weit gereifte Werk vollenden
zu können. (TBW 22.1, 270)
Ab Anfang der 1950er Jahre fanden sich viele österreichische Autorinnen und
Autoren, die zwischen 1938 und 1945 in NS-Anthologien aufgeschienen waren,
wieder in Almanachen und Sammelwerken, ohne dass diese Kontinuität von
den Herausgebern oder Verlegern kommentiert worden wäre.149 Als am 18. Jän-
ner 1957 in den Berichten und Informationen des Österreichischen Forschungs-
instituts für Wirtschaft und Politik Thomas Bernhards polemisches Wort an
junge Schriftsteller erschien, in dem er seine schreibenden Altersgenossen des
Opportunismus und der ökonomischen Korrumpierbarkeit bezichtigte, stand
auf der folgenden Seite eine ausführliche Buchkritik von Bruno Brehm, einem
der führenden Akteure im NS-Literaturbetrieb.150 Und noch 1972 nennt der von
149 Vgl. etwa den von Heinz Kindermann herausgegebenen Band Heimkehr ins Reich. Großdeutsche
Dichtung aus Ostmark und Sudetenland (1939), in dem u. a. Texte von Richard Billinger, Erna
Blaas, Hans Deißinger, Gertrud Fussenegger, Franz Karl Ginzkey, Linus Kefer, Max Mell, Franz
Nabl, Ilse Ringler-Kellner, Karl Heinrich Waggerl, Josef Weinheber und Kurt Ziesel enthalten
waren – allesamt Namen, die auch in Bernhards journalistischen Beiträgen der Jahre 1952 bis
1955 zu finden sind.
150 Thomas Bernhard: Ein Wort an junge Schriftsteller. In: Berichte und Informationen des
Österreichischen Forschungsinstituts für Wirtschaft und Politik 12 (18. 1. 1957), Nr. 548, S. 14;
Bruno Brehm: Aus der Nachkriegszeit. In: ebd., S. 15. – Einer Aufstellung von Klaus Amann:
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker312
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471