Seite - 319 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 319 -
Text der Seite - 319 -
„nicht greifbare[r] Motive[ ]“ bedienten und zudem „jedes wesentlich tiefere[ ]
Empfinden[ ]“ vermissen ließen (TBW 22.1, 149); Erich Landgrebe ließ er ein
knappes Jahr später wissen, die von ihm vorgestellte Geschichte sei „routiniert
und effektvoll in höchstem Maße“ gewesen, während er die am selben Abend
präsentierten Arbeiten von Georg Eberl für die „volkstümlichsten und echtesten“
der Lesung hielt – und diese beiden Superlative ausdrücklich als Lob verstand
(TBW 22.1, 336). Bernhard operiert in seinen Literatur- und Theaterkritiken der
Jahre 1952 bis 1954 oft mit der Gegenüberstellung von ‚Echtem‘, ‚Einfachem‘ und
‚Wahrem‘ auf der einen und ‚Künstlichem‘ auf der anderen Seite, wobei mit Letz-
terem der Vorwurf einer Orientierung am Kommerziellen und allzu Bekömm-
lich-Trivialen einhergeht: „Irgendwie weiß der Autor, wie man ein Stückchen
schneidert“, heißt es etwa am 1. Juni 1954 in den Salzburger Nachrichten über
Jochen Huths Lustspiel Die vier Gesellen. „Es ist Konfektion, präsentiert sich sehr
anspruchslos, aber es paßt.“ (TBW 22.1, 382)
In diesen Zusammenhang fügt sich auch der am 5. Oktober 1953 im Demo-
kratischen Volksblatt veröffentlichte Artikel über die im Juni 1950 gestartete
Taschenbuchreihe des Rowohlt Verlags: „Es ist noch keine drei Jahre her, als auf
dem deutschen Büchermarkt die kleinen scheckigen und verblüffend billigen
Büchlein des Ernst-Rowohlt-Verlages erschienen.“ (TBW 22.1, 267) Unter dem
Titel Die Ro-Ro-Ro-Kost schmeckt nicht mehr? echauffiert sich Bernhard über die
„geschmacklose Aufmachung“ der neuen Taschenbücher, mit der man offenbar
„dem Schundroman Konkurrenz machen“ wolle, zeigt sich in weiterer Folge
des Berichts aber erfreut darüber, dass „der Absatz der billigen Kleinbuchreihe“
gegenwärtig stocke: „Der Leser legt heute auch wieder Wert auf eine gediegene
Ausstattung des Buches“ (TBW 22.1, 267 f.), ja:
Die Leser wollen die Ro-Kost nicht mehr. Daß aber jetzt vielleicht die Zeit ange-
brochen ist, in der man auf das Äußere (vom Inneren zu reden, lassen wir uns noch
eine Weile Zeit!) des Buches Wert legt, auf die Beständigkeit, verbunden mit gutem
Geschmack, das ist auf alle Fälle erfreulich, ist einer der Lichtblicke unserer Zeit.
(TBW 22.1, 268 f.)168
168 Zur Geschichte der „rororo“-Taschenbuchreihe vgl. Daniela Völker: Das Buch für die Massen.
Taschenbücher und ihre Verlage. Marburg: Tectum 2014, S.
81 – 104.
– Zu den Diskussionen um
das Medium des Taschenbuchs in den 1950er Jahren vgl. u. a. Patrick Rössler: Pro(roro)voka-
tion
– die bunten Farben des Massengeschmacks. Der Rowohlt-Verlag und das frühe deutsche
Taschenbuch. In: Neue Perspektiven der deutschen Buchkultur in den 50er Jahren des 20.
Jahr-
hunderts. Ein Symposion. Hg. v. Günter Häntzschel. Wiesbaden: Harrassowitz 2003, S.
119 – 154;
David Oels: Rowohlts Rotationsroutine. Das moderne Taschenbuch in Deutschland und der
rasante Aufstieg des Rowohlt-Verlags nach 1945. In: Solitäre und Netzwerker. Akteure des
kulturpolitischen Konservativismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands. Hg. v. Erhard
Schütz u. Peter Uwe Hohendahl. Essen: Klartext 2009, S. 185 – 208.
„Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 319
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471