Seite - 332 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Stellungnahme erneuerte Bernhard seine 1955 in der Furche geäußerte Kritik
am Salzburger Landestheater, wiederholte seine damaligen Argumente gegen
„Schwachsinn“, „Schweinerei“ und „kopflose[n] Mimenunrat“ (TBW 22.1, 608)
und rekapitulierte die daraus resultierende gerichtliche Auseinandersetzung.
Indem er den Erscheinungszeitpunkt seines Furche-Artikels in das Jahr 1949 vor-
verlegte
– „ich bin nichts als achtzehn gewesen“ (TBW 22.1, 608)
–, modifizierte
er seine intellektuelle Biographie und stilisierte sich wie bei anderen Gelegen-
heiten zum frühreifen journalistischen Rebellen. Nun klagte nicht das Landes-
theater, sondern der Verlag und die Chefredaktion der Furche, weil Bernhard
sie in seinem Beitrag für Theater heute als „damals beste[ ]“ Wochenzeitung
Österreichs bezeichnet hatte, „die heute allerdings nurmehr noch als eine Qua-
dratur des perversen katholisch-nazistischen Stumpfsinns herauskommt“ (TBW
22.1, 608). Auch dieses Gerichtsverfahren, dessen Akten den Beschuldigten als
„Thomas Bernhard, Journalist und Theaterkritiker“ auswiesen,219 endete mit
einem Vergleich.
Bis Mitte der 1950er Jahre sei Bernhard, so Gitta Honegger, „der brave Bub
gewesen, der Not und Krankheit überwunden hatte, ein junger einheimischer
Schriftsteller, dessen Geschichten und Gedichte von liebevoller Beobachtung
des heimischen Milieus zeugten“; doch nun „stellte sich der Enkel
– das offiziell
verhätschelte lokale Nachwuchstalent
– gegen den gemütlichen Provinzialismus
einer beliebten lokalen Institution“.220 Der mit ihm befreundete Komponist und
Dirigent Rudolf Brändle war Jahrzehnte später der Überzeugung, die im Lauf
der Zeit gewonnene „Schreibroutine“ habe Bernhard allmählich seine „Macht“
als Journalist und Kritiker bewusst gemacht und ihn zu seiner „polemisch über-
spitzte[n] Attacke“ gegen das Salzburger Landestheater angestachelt; zugleich
hat Brändle diese rabiate publizistische Intervention aber auch mit Bernhards
„erfolglose[m] Vorsingen ein Jahr zuvor an eben diesem Theater“ in Verbindung
gebracht, die Polemik also, jedenfalls zum Teil, als persönliche Retourkutsche
interpretiert.221
Dass Bernhards neu gewonnenes Selbstbewusstsein im Sprechen über Lite-
ratur und Kultur und sein zunehmender Hang zur Provokation nicht allseits
auf Zustimmung stießen, zeigt ein im November 1957 in den Salzburger Nach-
richten veröffentlichter Bericht über eine gemeinsam mit Gerhard Fritsch abge-
haltene Lesung:
219 Zit. nach Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm.
36), S.
160, Anm.
3; zur Ehrenbeleidigungs-
klage gegen Bernhard vgl. die Korrespondenz ebd., S. 157 – 169.
220 Honegger: Thomas Bernhard (Anm. 71), S. 80 f.
221 Brändle: Zeugenfreundschaft (Anm. 19), S. 89.
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker332
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471