Seite - 344 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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So steht der âGastkommentarâ im profil denn auch weniger in der Tradition
seiner frĂŒhen journalistischen TĂ€tigkeit fĂŒr Zeitungen in Salzburg, Linz und Wien,
sondern ist, rein thematisch, zuallererst dem Bereich politischer Provokation
und der Auseinandersetzung Bernhards mit der österreichischen Sozialdemo-
kratie zuzurechnen. Um den werkgeschichtlichen Status von Der pensionierte
Salonsozialist zu bestimmen, soll deshalb zunÀchst die Vorgeschichte des Textes
rekapituliert werden, um anschlieĂend die spezifisch literaturkritische Ambition
des Artikels zu erkunden.
Der Konflikt Bernhards mit dem sozialistischen Bundeskanzler Bruno
Kreisky, dem lÀngstdienenden Regierungschef der Zweiten Republik, reichte
zum Zeitpunkt des polemischen âGastkommentarsâ bereits einige Jahre zurĂŒck:
Im Mai 1976 hatte er einen offenen Brief in der Wiener Presse an Kreisky gerich-
tet, um auf die skandalöse Behandlung, die ihm vonseiten des österreichischen
Botschafters in Lissabon zuteilgeworden war, aufmerksam zu machen.4 Bot-
schafter Heinz Weinberger hatte sich Bernhards Bericht zufolge despektierlich
ĂŒber Person und Werk des Autors geĂ€uĂert und ihn bei mehreren Gelegen-
heiten als einen âdestruktiven, schrecklichen Kerlâ bezeichnet (TBW 22.1, 648).5
âIn aller Bescheidenheit und naturgemÀà auch Betroffenheitâ wandte er sich
deshalb mit der Frage an den Bundeskanzler, ob es denn âdie Aufgabe eines
österreichischen Botschafters im Auslandâ sein könne, einen angesehenen,
vom deutschen Goethe-Institut eingeladenen Autor âim Ausland lĂ€cherlichâ
zu machen (TBW 22.1, 649). Bernhard forderte den Regierungschef coram
publico dazu auf, sich seines Protestes anzunehmen und der Verunglimpfung
seiner Person Einhalt zu gebieten. Eine (öffentliche) Reaktion Kreiskys ist nicht
belegt; womöglich bedeutete gerade ihr Ausbleiben fĂŒr Bernhard eine KrĂ€n-
kung, interpretierte er sie als mangelnde WertschÀtzung, die er dem Politiker
in den folgenden Jahren nicht mit gleicher MĂŒnze, sondern mit dem Furor des
Nachtragenden â sowohl in Statements in eigenem Namen als auch in fiktio-
nalen Texten â zurĂŒckzahlen sollte.
Bernhards erste Attacke lieĂ nicht lange auf sich warten: Sein Kommentar
zum Nationalfeiertag des Jahres 1977, ist, ohne den Namen des Politikers expli-
zit zu nennen, unter anderem auf Bruno Kreisky, insbesondere aber auf die seit
4 Vgl. dazu den Kommentar in TBW 22.1, 852 â 855; Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard.
Eine Biografie. Salzburg, Wien: Residenz 2015, S.Â
289 f.; Sehr geschÀtzte Redaktion. Leserbriefe
von und ĂŒber Thomas Bernhard. Hg. v. Jens Dittmar. Wien: Edition S 1991, S. 71 â 80. Vgl. die
Bemerkungen in Kurt Hofmann: Aus GesprÀchen mit Thomas Bernhard. Wien: Löcker 1988,
S. 100.
5 Weinberger hat dieser Darstellung öffentlich widersprochen; vgl. den Leserbrief an die Presse
vom 11. 6. 1976: âNachdrĂŒcklich möchte ich feststellen, daĂ ich den Ausdruck âdestruktiver,
schrecklicher Kerlâ nie gebraucht und Herrn Bernhard auch nicht, wie er mir unterstellt, öffent-
lich lĂ€cherlich gemacht habe.â (Sehr geschĂ€tzte Redaktion [Anm. 4], S. 79)
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard344
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471