Seite - 349 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 349 -
Text der Seite - 349 -
auch „der kleine Kreisky“ auftreten sollte; die Bühne der globalen Politik und
jene des Theaters werden dabei, wie so oft bei Bernhard, zusammengeführt, um
aus der Konfrontation der beiden Sphären komische Effekte zu gewinnen:
Der Papst und der Ronald Reagan und der Breschnew, das ist so wie der Bronner und
der Farkas und der Wehle, auf etwas kleinerer Stufe. […] Es spielen ja immer alle
Mächtigen sehr gut zusammen. Heut ist es der Carter, der Reagan und der Wojtyła.
Und dann war’s einmal der Duce und der Hitler und der Franco. Jede Zeit hat ihre
anderen Hauptdarsteller. Und dann kommt einmal so eine Evita Péron oder was, so
eine Liz Taylor auf der Weltbühne halt. […] Ist alles ein großes Theater. Oder der
böse Khomeini, der tritt dann von rechts, tritt der auf, und der kleine Kreisky von
hinten, nicht, „die Pferde sind gesattelt“, ist doch alles ganz lustig. (TBW 22.2, 222 f.)
Bernhard setzte die Idee einer umfassenden „Menschheitskomödie“ (TBW 19,
103), in der unter anderem Julius Caesar, Winston Churchill, Napoleon Bonaparte,
Madame de Staël und Albert Einstein auftreten, zwischenzeitlich im Bühnenstück
Der Theatermacher (1984) in Szene. Im März 1988 nahm er sie in einer Zuschrift
an die ZEIT noch einmal auf – und zwar im Konzept eines Stücks für diverse
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, in dem Kreisky „den großen Dubiosus“
(TBW 22.1, 695) spielen sollte. Indem Bernhard dem imaginierten Theaterstück
den Titel Glückliches Österreich gab, verknüpfte er seinen humoristischen Text
mit der bereits zitierten Polemik gegen Kreisky von 1977, der man die Aufnahme
in den gleichnamigen Residenz-Band (Glückliches Österreich, 1978) verweigert
hatte. Sein imaginiertes Stück und die Bedingungen seiner dramaturgischen
Ausarbeitung entwirft Bernhard als veritable Massenveranstaltung für das „fan-
tastischste[ ] aller Theaterensembles“ (TBW 22.1, 698):
Leider sind so viele Mitspieler in meinem Glücklichen Österreich, daß ich sie hier nicht
aufzählen kann, aber es sind mehr als dreihundert, ich glaube dreihundertneunund-
zwanzig, aber die wichtigsten habe ich ja schon genannt. Waldheim, Kreisky, dazu
kommen noch Vranitzky, Herr Mock und der Papst, der sich bereit erklärt hat, die
Endproben mitzumachen, und glauben Sie mir, der Papst war schon dreimal hier und
hat seine Rolle ausgezeichnet gespielt. (TBW 22.1, 695 f.)17
17 Vgl. zu diesem fiktiven Stück die Überlegungen von Nicolas Pethes: „glauben Sie mir“. Die
Ausweitung der literarischen Kampfzone in Thomas Bernhards Interviews, Briefen, Preisreden
und Feuilletonbeiträgen. In: Text + Kritik (42016), H.
43, S.
126 – 139, hier S.
138: „Was fängt man
an mit einer ironischen Pointe, die sich selbst so deutlich als solche ausstellt, dass man nicht
mehr sicher sein kann, ob diese Ausstellung nicht selbst ironisch ist? Was mit der Ankündigung
eines Theaterstücks in einem Leserbrief, das offensichtlich fiktiv, als Fiktion aber ja gerade doch
wieder Literatur und nicht etwa Gegenstand eines sachlichen Schreibens ist?“
Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 349
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471