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hat. Die Sozialisten sind keine Sozialisten mehr, sagte ich, die heutigen Sozialisten
sind die neuen Ausbeuter, alles verlogen! sagte ich zur Wirtin [âŠ]. (TBW 6, 107 f.)
Die Verwischung der Grenzen zwischen fiktionalen Texten und Statements des
Autors in eigenem Namen ist ein zentrales Charakteristikum von Bernhards
Poetik; sie fĂŒhrte, so Clemens Götze, zu einer komplexen âVernetzung von
Interview, Leserbrief, öffentlicher Rede und literarischem Textâ.23 Am Beispiel
der gleich in mehreren Genres geĂ€uĂerten Pauschalkritik am politischen Sys-
tem Ăsterreichs und seinen Akteuren lĂ€sst sich diese spezifische Textstrategie
Bernhards exemplarisch nachvollziehen.24 Auf stilistischer Ebene weisen die
auktorialen Statements in öffentlichen Debatten eine signifikante NÀhe zur fik-
tionalen Rollenprosa bzw. zur Figurenrede in den TheaterstĂŒcken auf; dieses
rhetorische Verfahren, das Nicolas Pethes zuletzt als komplexes âFiktionalitĂ€ts-
spielâ beschrieben hat,25 sollte sich mit der Zeit zu Bernhards Markenzeichen,
zu einer âunverwechselbare[n] Handschriftâ entwickeln.26 Gerade im Kontext
seiner offen oder verdeckt autobiographischen Schreibprojekte nÀherten sich
der Duktus des Leserbriefschreibers und Feuilletonisten Bernhard und die
Sprechweisen seiner Protagonisten auf bemerkenswerte Weise an, so dass es
mitunter ânahezu unmöglichâ scheint, âsignifikante Unterschiede zwischen
seinen Prosatexten und den öffentlichen ĂuĂerungen [âŠ] auszumachenâ.27 In
Bernhards Spiel mit diversen Genres schriftstellerischer Artikulation werden
dabei thematische und stilistisch-performative Elemente âwie fertige Versatz-
stĂŒcke von Text zu Text weitergereichtâ 28Â
â ein Verfahren, das in der öffentlichen
23 Clemens Götze: âDie Redereien und Selbstdarstellungen hasse ichâ. Thomas Bernhards Inter-
viewkunst. In: Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb. Hg. v. Torsten
Hoffmann u. Gerhard Kaiser. Paderborn: Fink 2014, S. 239 â 256, hier S. 241.
24 Hierzu und zum Folgenden vgl. bereits Harald Gschwandtner: Journalistisches, Reden, Inter-
views. In: Bernhard-Handbuch. Leben â Werk â Wirkung. Hg. v. Martin Huber u. Manfred
Mittermayer. Unter Mitarb. v. Bernhard Judex. Stuttgart: Metzler 2018, S. 270 â 278.
25 Pethes: âglauben Sie mirâ (Anm. 17), S. 133.
26 Michael Billenkamp: Thomas Bernhard. Narrativik und poetologische Praxis. Heidelberg:
Winter 2008, S. 183.
27 Ebd., S. 385. Vgl. Manfred Mittermayer: LÀcherlich, charakterlos, furchterregend. Zu Thomas
Bernhards Rhetorik der Bezichtigung. In: Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Hg.
v. Joachim Knape u. Olaf Kramer. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 25 â 44, hier
S.Â
39 f.; Clemens Götze: âDie Ursache bin ich selbst!â Thomas Bernhards inszenierte Autorschaft
am Beispiel seiner (Film-)Interviews. In: Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische
Bedeutung der Literatur (Anm. 18), S. 357 â 371, hier S. 366 f.
28 Wolfram Bayer: Das Gedruckte und das TatsÀchliche. RealitÀt und Fiktion in Thomas Bernhards
Leserbriefen. In: Thomas Bernhard. BeitrÀge zur Fiktion der Postmoderne. Londoner Sym-
posion. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, Adrian Stevens u. Fred Wagner. Frankfurt a. M.
u. a.: Lang 1997, S. 1 â 23, hier S. 7. Vgl. auch Franz M. Eybl: âWenn das Werk lacht, weint der
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard352
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471