Seite - 359 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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bestätigen. Turrini, Jahrgang 1944, den Bernhard von seiner Zeit am Kärntner
‚Tonhof‘ Ende der 1950er Jahre als adoleszenten Dichter kannte, ihn damals
aber nie ernst genommen, ja verspottet hatte,46 war es gelungen, den Genera-
tionenunterschied zu Bernhard, was seine Karriere am Theater anging, beinahe
zu überwinden und aufzuholen. Zudem trat Turrini im Laufe der 1970er Jahre
wiederholt mit Äußerungen über seinen Kollegen an die literarische Öffentlich-
keit, die dem derart adressierten, für Kritik an seiner Person überaus sensiblen
Autor 47 nicht verborgen bleiben konnten.
Im Herbst 1974 etwa bemängelte Turrini in der Zeitschrift Neues Forum
Bernhards indifferente, weil bloß pauschale Gesellschaftskritik, die ihre Zustän-
digkeit für konkrete politische und soziale Fragen von sich weise und stattdessen
darauf schiele, die Erwartung des Literaturmarktes und der an derlei Aspekten
kaum interessierten Literaturkritik zu erfüllen – Vorwürfe, die an die Kontro-
versen zwischen Peter Handke und Peter Hamm bzw. Hans Christoph Buch
Ende der 1960er Jahre erinnern.48 Wie so oft zeigt sich auch hier eine gewisse
Phasenverschiebung der literarischen bzw. literaturpolitischen Debatten in der
Bundesrepublik Deutschland und in Österreich:
Man soll kritisch sein, sehr kritisch sogar, aber niemals konkret. Ein Autor, der schlicht
und einfach hinschreibt, in Chile werden täglich fünfzig Menschen ermordet, hat
schon verloren. Seine Aussage ist viel zu banal. […] Wie man es richtig macht, zeigt
uns der Spitzenläufer Thomas Bernhard. Er schreibt: Die Natur ist einerseits das
Natürlichste, andererseits das Unnatürlichste. Oder: Wir leben in einer Zeit, in der
die Forderungen der Gemeinen erfüllt werden. Oder: Die Welt, die Welt ist so ent-
stellt. Jeder dieser Sätze beschäftigt mindestens zwanzig Kritiker, vier germanistische
Institute, achtzehn Seminare, sieben Tagungen und 315 neurotische Backfische. Der
Mann ist ein genialer Dichter, er hat einen genialen Marktinstinkt.49
46 Vgl. Klaus Amann: Peter Turrinis Bei Einbruch der Dunkelheit. Ein Stück über den „Tonhof“?
Mit einem Seitenblick auf Thomas Bernhards Holzfällen. Eine Erregung. In: Peter Turrini,
Schriftsteller (Anm.
45), S.
155 – 178, hier S.
160 u.
165 f.; dazu auch Maria Fialik: Eine Bomben-
reklame. Gespräch mit Jeannie Ebner, Schriftstellerin. In: M. F.: Der Charismatiker. Thomas
Bernhard und die Freunde von einst. Wien: Löcker 1992, S. 17 – 47, hier S. 21.
47 Wieland Schmied: Auersbergers wahre Geschichte und andere Texte über Thomas Bernhard.
Ein Alphabet. Vorwort v. Hans Höller. Weitra: Bibliothek der Provinz [2014], S.
32, zufolge war
Bernhard ein Schriftsteller „von höchst empfindlicher Natur“.
48 Vgl. Kap. II, Abschnitt „Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe“.
49 Peter Turrini: Kulturkritik. [1974] In: P. T.: Mein Österreich. Reden, Polemiken, Aufsätze. Darm-
stadt: Luchterhand 1988, S.
27 – 39, hier S.
37. Zu den Angriffen Turrinis gegen Bernhard vgl. Jutta
Landa: Realistisch oder experimentell. Frontenbildungen in der österreichischen Literatur der
sechziger und siebziger Jahre. In: Konflikte
– Skandale
– Dichterfehden in der österreichischen
Literatur. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. Berlin: Schmidt 1995, S. 215 – 224, hier S. 218.
Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 359
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471