Seite - 368 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Staatsmännlein nicht davon abbringen lassen, dieses Land Österreich zu lie-
ben, und dieses Volk zu lieben, das heißt die vielen Vereinzelten, welche ohne
Gruppenzwang leben, ohne Meutendrang, Zotenhang, Grinsgeselligkeit.“ 79
Noch im „einzigen Politiker, der mir einmal nahgekommen war und jetzt
nach seiner Entmachtung auf seinem Altenteil saß“, jenem „Politiker, den ich
wie keinen geachtet hatte“,80 von dem Handkes Alter Ego Gregor Keuschnig in
Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) erzählt, ohne seinen Namen zu nennen,
könnte man eine Reverenz des Autors an den 1990 verstorbenen Kreisky ver-
muten. Mehr als ein Jahrzehnt darauf hat er im Gespräch mit dem Journalisten
Michael Kerbler den einstigen Bundeskanzler als eine positive Ausnahme im
politischen Feld Österreichs beschrieben: Er habe, so Handke, „nie einen Staats-
mann bewundert“, lediglich zu Kreisky „vielleicht“ „eine Zuneigung“ gefasst,
„Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, aber das war auch eine Epoche,
wo alles im Aufbruch war“.81
Ganz deutlich klaffen die Bilder, die Thomas Bernhard und Peter Handke von
Bruno Kreisky gezeichnet haben, auseinander: Während Bernhard der Umstand,
dass viele Autorinnen und Autoren Kreisky als einen der Kunst und der Literatur
gewogenen, für ihre Kritik am Status quo aufgeschlossenen Politiker schätzten
und öffentlich für ihn eintraten, zu immer heftigeren Attacken reizte, weil er
diesem Konsens misstraute und nicht als einer von vielen gelten wollte, verlieh
Handke seiner Achtung für Kreisky wiederholt Ausdruck. Dass Kreisky ausge-
rechnet als „Bewunderer“ seines schärfsten Konkurrenten im literarischen Feld
galt, dürfte Bernhards Sympathie für den Politiker nicht eben gesteigert haben.82
79 Ebd., S. 71 f.
80 Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus der neuen Zeit. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1994, S. 126 f. u. 132. – Sehr viel weniger begeistert zeigte sich Handke von
anderen sozialdemokratischen Politikern; vgl. etwa seine Äußerung in Heinz Sichrovsky: Peter
Handke: Ich bin ein Attentäter. In: H. S.: Einblicke. Begegnungen und Porträts. Wien: Jugend &
Volk 1990, S.
169 – 174, hier S.
169: „Ich habe einmal mit Finanzminister Ferdinand Lacina über
Literatur gesprochen und dabei das Ausmaß der Verformung begriffen: Da existiert nur das
Lustige, das Kritisch-Politische. Für alles, was jenseits von Nestroy und Karl Kraus stattfindet,
für Raimund, für Grillparzer, die ich liebe, ist im Denken der lebenslangen Roten Falken kein
Raum.“
81 … und machte mich auf, meinen Namen zu suchen. Peter Handke im Gespräch mit Michael
Kerbler. Klagenfurt: Wieser 2007, S. 54.
82 Vgl. dazu die Ausführungen zur „Konkurrenzsituation“ der beiden Autoren, „in die persönliche
Animositäten eingespeist und im journalistischen Echo mit entsprechenden Halleffekten wieder-
gegeben und so verschärft werden“, in Karl Wagner: „Er war sicher der Begabteste von uns allen“.
Bernhard, Handke und die österreichische Literatur. Wien: Picus 2010, S.
32: „Es ist eine kleine
Welt für große Konkurrenten, die durch ein wechselseitiges Dauer-Beobachtungsverhältnis
nicht größer wird.“
– Polt-Heinzl: Die grauen Jahre (Anm.
70), S.
198, hat darauf hingewiesen,
dass „die neue Kulturpolitik der Kreisky-Ära“ auch zu einer „institutionellen Gründungswelle“
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard368
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471