Seite - 374 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Der Vorstellung, der einzig geeignete Kritiker eigener literarischer Arbeiten
zu sein, ist eine doppelte, auf den ersten Blick widersprĂŒchliche Konzeption von
Autorschaft eingeschrieben: Sie entwirft den Schriftsteller zunĂ€chst als âoberste
und einzige Instanzâ 96 fĂŒr eine angemessene Bewertung eines von ihm verfass-
ten Textes, geht also von einer starken, vom Urteil keines Ausstehenden abhÀn-
gigen Position des Autors aus. Gleichwohl hat Bernhard die Selbstrezension im
GesprÀch mit Peter Hamm im Zusammenhang einer ausgeprÀgten Unzufrieden-
heit mit einem abgeschlossenen Schreibprojekt ins Spiel gebracht. Die Idee, die
eigenen Texte so kritisch wie niemand anderer zu prĂŒfen, entstehe, so Bernhard,
gerade dann, wenn ihm âwieder nicht gelungenâ sei, âdas zu machen, was ich
eigentlich wollteâ (TBW 22.2, 129). Bernhard hat diese EinschĂ€tzung, seinem
sonstigen Hang zur selbstbewussten Hybris zum Trotz, noch im letzten ausfĂŒhr-
lichen Interview, das er 1987 mit Asta Scheib gefĂŒhrt hat, artikuliert:
Man kann nie zu Papier bringen, was man sich denkt oder vorgestellt hat. Das geht
zum gröĂten Teil mit der Ăbertragung aufs Papier verloren. Was man liefert, ist nur
ein schwacher, lÀcherlicher Abklatsch dessen, was man sich vorgestellt hat. (TBW
22.2, 340 f.)
Bei Bernhard verschrÀnken sich zwei Dimensionen der bestÀndigen Selbstkritik,
der fortwÀhrenden Beteuerung eigener UnzulÀnglichkeit: Zum einen nimmt er
den Prozess der Niederschrift, der Verwandlung von Ideen in eine schriftliche
Form, in den Blick, um zu zeigen, dass die schriftliche Form stets hinter der
ursprĂŒnglichen gedanklichen Konstruktion zurĂŒckbleibt; zum anderen greift er
das Problem in seinen poetologischen Reflexionen noch umfassender auf, wenn
er die Möglichkeit einer sprachlichen ReprÀsentation erlebter RealitÀt in einem
literarischen Text ganz grundsÀtzlich in Zweifel zieht.
Den Topos von der UnverfĂŒgbarkeit der â mit Adalbert Stifters Nachkom-
menschaften gesprochen â âwirklichen Wirklichkeitâ,97 dessen weitverzweigte
Geschichte in Literatur und bildender Kunst hier nicht rekapituliert werden kann,
hat Bernhard nicht nur in vereinzelten SelbstauskĂŒnften,98 sondern auch in zahl-
reichen ErzÀhltexten in Stellung gebracht. In der autobiographischen Pentalogie
96 Götze: âMit allen Anzeichen der Empörungâ (Anm. 55), S. 62.
97 Vgl. Adalbert Stifter: Nachkommenschaften. In: A. S.: Nachkommenschaften. SpÀte ErzÀhlun-
gen. Hg. u. mit einem Nachwort v. Karl Wagner. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2012, S. 5 â 84,
hier S. 43 u. passim.
98 Vgl. etwa Bernhards Rede zur Verleihung des Georg-BĂŒchner-Preises 1970: âWas wir veröf-
fentlichen, ist nicht identisch mit dem, was istâ (TBW 22.2, 34); Bernhards Schreiben folgt,
so Christoph Kappes: SchreibgebÀrden. Zur Poetik und Sprache bei Thomas Bernhard, Peter
Handke und Botho StrauĂ. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 235, ganz grund-
sĂ€tzlich einer âreprĂ€sentationskritischen Poetologie[ ]â.
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard374
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471