Seite - 383 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 383 -
Text der Seite - 383 -
geblieben (TBW 4, 157 f.).130 Die Selbstkorrektur als Ausdruck radikaler Skepsis
greift vom Schreiben am Ende auf das Leben ĂŒber: Schreckt Roithamer vor der
letzten Konsequenz seines Tuns, der âeigentliche[n] Korrekturâ (TBW 4, 286),
d. h. dem Selbstmord, zunĂ€chst zurĂŒck, ist in der ErzĂ€hlzeit des Romans, der
mit dem Bericht ĂŒber den âSelbstmord meines Freundes Roithamerâ einsetzt
(TBW 4, 7), bereits klar, dass er auch diesen Schritt vollzogen hatÂ
â ohne jedoch
seinen schriftlichen Nachlass zu vernichten und ihn damit vor dem Zugriff der
Nachwelt zu bewahren.131
In der Figur Roithamers stilisiert Bernhards Korrektur die Monomanie
einer kĂŒnstlerisch-intellektuellen Praxis, wobei die Wiederholungsstruktur
des Textes und sein hyperbolisch-superlativischer Gestus durchaus komische
Effekte zeitigen. Zugleich verweist die tragische Geschichte des Architekten
aber auch auf die Entstehung jenes Buches, in dem diese Geschichte erzÀhlt
wirdÂ
â etwa auf das Problem des Abschlusses eines kreativen Prozesses. Es liegt
deshalb nahe, den Roman mit Andreas GöĂling auch und im Besonderen als
âSelbstreflexionâ eines âĂ€sthetischen Verfahrensâ zu begreifen.132 Die geschil-
derte âGewalt gegen das zu Korrigierendeâ 133 ist, zieht man die Textgenese
von Korrektur in Betracht, eminent poetologisch aufgeladen: Sie stellt jenen
Modus permanenter Selbstkritik ins Zentrum, den Bernhard auch fĂŒr seine
eigene literarische Praxis reklamiert hat. â[E]s ist immer der gleiche Vorgangâ,
so Bernhard im Dezember 1969 in einem Brief an seine Lektorin Anneliese
Botond in Bezug auf Das Kalkwerk (1970), âdas Buch ist fertig und zerfĂ€llt dann
plötzlich in der Nacht, die TrĂŒmmer liegen vor mir und ich habe wieder mein
VergnĂŒgen daran.â 134 Im 1971 publizierten Prosatext Am Ortler. Nachricht aus
130 Dazu GöĂling: Thomas Bernhards frĂŒhe Prosakunst (Anm.Â
113), S.Â
298 f. Roithamer versuche,
so GöĂling weiter, das Manuskript âdadurch zu retten, daĂ er alles Disparate tilgt, die Zeichen
mehr und mehr verdichtet; aber dieser ProzeĂ, einmal begonnen, gerĂ€t sogleich auĂer Kontrolle:
Mehr und mehr Elemente lösen sich als disparat ab, stÀrker und stÀrker muà er verdichten, um
das System zu rettenâ (ebd., S. 304). â Vgl. auch Hans Höller: Wie die Form der Sprache das
Denken des Lesens ermöglicht. Der analytische Charakter von Bernhards Sprache. In: Rhetorik
und Sprachkunst bei Thomas Bernhard (Anm. 27), S. 81 â 90, hier S. 88, sowie Heyl: Zeichen
und Dinge (Anm. 111), S. 125.
131 Vgl. dazu Billenkamp: Thomas Bernhard (Anm.Â
26), S.Â
204: âMit jedem Revidieren des von ihm
Geschriebenen korrigiert Roithamer auch sich selbst. Den finalen Schritt, der darin besteht, die
Aufzeichnungen nach der letzten Ăberarbeitung zu verbrennen, vollzieht er entgegen seiner
ursprĂŒnglichen Planung nicht mehr.â
132 GöĂling: Thomas Bernhards frĂŒhe Prosakunst (Anm. 113), S. 305.
133 Thill: Die Kunst, die Komik und das ErzÀhlen (Anm. 113), S. 211.
134 Thomas Bernhard an Anneliese Botond, 7. 12. 1969. In: Anneliese Botond: Briefe an Thomas
Bernhard. Mit unbekannten Briefen von Thomas Bernhard. 1963 â 1971. Hg. v. Raimund
Fellinger. Mattighofen: Korrektur 2018, S.Â
170; zuerst gedruckt in: Text + Kritik (42016), H.Â
43,
S. 5 â 6. Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft 383
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471