Seite - 385 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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die Genese des Romans, ließe sich die Figur Roithamers, der die Selbstkorrektur
schließlich auch an Leib und Leben vollzieht, als negative ‚Objektivierung‘ von
Bernhards gelingender Schriftstellerexistenz verstehen.138 Während Roithamer
am Abschluss der Studie, d. h. an seinen eigenen Ambitionen und Ansprüchen,
scheitert, publiziert sein Autor Bernhard aller Überarbeitungsnöte und aller
Verzögerungen zum Trotz ein (in der Erstausgabe) immerhin 363 Seiten dickes
Buch, seinen bis dahin umfangreichsten Roman, im renommiertesten Literatur-
verlag des deutschsprachigen Raums. Im Gegensatz zu seinem Protagonisten
scheitert Thomas Bernhard nicht, sondern bringt sein Buchprojekt erfolgreich
zum Abschluss.
In den Prosatexten Die Billigesser (1980) und Der Untergeher (1983) hat
Bernhard dieses Sujet bzw. dieses Strukturprinzip erneut aufgenommen.139 Im
Untergeher heißt es über den ehemaligen Klaviervirtuosen und nunmehrigen
Selbstmörder Wertheimer, er habe ein Buch
veröffentlichen wollen, aber dazu ist es nicht gekommen, weil er sein Manuskript
immer wieder geändert hat, so oft und so lange geändert, bis von dem Manuskript
nichts mehr dagewesen ist, die Veränderung seines Manuskripts war nichts anderes,
als das völlige Zusammenstreichen des Manuskripts, von dem schließlich nichts als
der Titel Der Untergeher übriggeblieben ist. (TBW 6, 50)140
Dass man diese Zeilen in einem Buch liest, das den Titel Der Untergeher und
die Verfasserangabe „Thomas Bernhard“ trägt, verweist – wie auch im Fall von
Korrektur – nur zu deutlich auf die Überlegenheit des Autors gegenüber seiner
scheitenden Figur.
138 Vgl. dazu auch meine Überlegungen in: Thomas Bernhards ‚Radikalität‘. Versuch einer kultur-
soziologischen Lesart. In: Das Radikale. Gesellschaftspolitische und formal-ästhetische Aspekte
in der Gegenwartsliteratur. Hg. v. Stephanie Willeke, Ludmila Peters u. Carsten Roth. Berlin
u. a.: LIT 2017, S. 235 – 261, hier S. 239 f. Ohne Bezug auf Bourdieu hat schon Klug: Thomas
Bernhards Theaterstücke (Anm.
30), S.
3, festgestellt, „das Schreiben“ habe Bernhard als „ein-
zigartige[s] Medium der Selbstanalyse und der Objektivierung der eigenen Schwierigkeiten
mit dem Existieren“ gedient.
139 Siehe schon die einschlägige Passage in Bernhards zweitem Roman Verstörung (1967) über einen
schreibenden Industriellen: „Er arbeite Tag und Nacht, schreibe und vernichte das Geschrie-
bene wieder, schreibe wieder und wieder und vernichte wieder und nähere sich seinem Ziel.“
(TBW 2, 46)
140 Vgl. dazu Christoph Bartmann: Vom Scheitern der Studien. Das Schriftmotiv in Bernhards
Romanen. In: Text + Kritik (31991), H. 43, S. 22 – 29, hier S. 24, sowie Huntemann: Artistik und
Rollenspiel (Anm. 37), S. 47 f., der in Wertheimers „Perfektionismus“ eine „Reminiszenz an
Roithamers Korrektur-Problematik“ erkennt.
Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft 385
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471