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architektonischen Innovation; ânicht des Geldes wegen, nicht des Ruhmes wegen,
nicht aus Eitelkeitâ, sondern â wie es in Adalbert Stifters ErzĂ€hlung Nachkom-
menschaften heiĂt, deren Ton und Sujet in mancherlei Hinsicht auf Bernhards
Literatur vorausweist â aufgrund des â[S]treben[s] nach eigener Billigungâ.144
Auch Peter Handke hat in seinen JournalbĂ€nden und anderen Genres darĂŒber
reflektiert, auf welche Weise ein Schriftsteller als âSelbstmaĂreglerâ 145 fungieren
könne, ja mĂŒsse; âsich selber MaĂ und Regeln [zu] gebenâ, hĂ€lt er im Januar 1988
in einem Notat fest,146 sei ein entscheidendes Pensum eines Schreibens abseits
gĂ€ngiger Vorstellungen, das erÂ
â und hier schlieĂt sich der KreisÂ
â wiederholt als
bewusste und provokante Abkehr von den Erwartungshaltungen der Literatur-
kritik entworfen hat.
In öffentlichen Statements hat Bernhard regelmĂ€Ăig auf einer signifikanten
AlteritĂ€t seines Werks beharrt und eine Stellung als âAuĂenseiter der Literatur-
geschichteâ 147 fĂŒr sich beansprucht: Er habe, so der Autor 1979 im GesprĂ€ch mit
AndrĂ© MĂŒller, âdas GefĂŒhlâ, âetwas zu machen, was mir keiner nachmacht, nicht
nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt nichtâ (TBW 22.2, 160), um zwei Jahre
spĂ€ter darauf zu pochen, ânie ein Vorbild gehabtâ zu haben: âIch habâ immer
nur ich selber sein wollen und habâ immer nur so geschrieben, wie ich selber
gedacht habâ, und dadurch bin ich in die Gefahr, von irgendso [sic] einem Vor-
bild aufgesaugt zu werden, gar nie gekommen.â (TBW 22.2, 192) Das Selbstver-
stÀndnis des Autors und jenes seines Protagonisten Roithamer treffen sich in
144 Stifter: Nachkommenschaften (Anm.Â
97), S.Â
34. Zur NĂ€he der Nachkommenschaften zur Literatur
Bernhards vgl. die Bemerkungen in Martina Kurz: Bild-Verdichtungen. Cézannes Realisation
als poetisches Prinzip bei Rilke und Handke. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S.Â
357,
Anm.Â
34: âDer Perfektionismus Roderers [in Stifters Nachkommenschaften] treibt diesen so weit,
daà er sich ein Blockhaus in den Wald setzt, um von dort aus ungestört sein Objekt durch ein
Fenster kontrollieren zu können; das GebĂ€ude bietet ihm die GewĂ€hr, bestĂ€ndig seine kĂŒnst-
lerischen Hervorbringungen mit dem realen Vorbild in kritischer Absicht zu konfrontieren.
Diese Unerbittlichkeit verbindet Roderer nicht nur mit Cézanne, sondern hat offensichtlich
in Thomas Bernhards Roithamer im Roman âKorrekturâ einen spĂ€ten Nachfahren gefunden.
Roithamer sucht nicht nur seiner Schwester ein vollendetes, gleichfalls der Natur abgerungenes
Bauwerk [âŠ] zu errichten, sondern zeichnet sich ĂŒberdies durch seine mit derselben Konse-
quenz betriebene dichterische ProduktivitĂ€t ausÂ
[âŠ].â Vgl. jedoch die gegensĂ€tzliche Position
bei Hahn: Geschichte und Epigonen (Anm. 37), S. 451.
145 So der Titel eines kurzen Aufsatzes ĂŒber Karl Philipp Moritz. Vgl. Peter Handke: Der Selbst-
maĂregler. Zu Karl Philipp Moritz. [1993] In: P. H.: MĂŒndliches und Schriftliches. Zu BĂŒchern,
Bildern und Filmen. 1992 â 2002. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 37 â 38, hier S. 38: âKaum
jemand ist in einem Buch so streng mit sich selber umgegangen wie Karl Philipp Moritz mit
sich als Anton Reiserâ; er habe sich, so Handke, durch âeine fast schaurige HĂ€rte, nein, SchĂ€rfe
gegen sich selbstâ ausgezeichnet (ebd., S. 37).
146 Peter Handke: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987Â
â Juli 1990. Salzburg, Wien:
Jung und Jung 2005, S. 83.
147 Götze: âDie Redereien und Selbstdarstellungen hasse ichâ (Anm. 23), S. 252.
Vom âStreben nach eigener Billigungâ 387
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471