Seite - 399 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Abschließend soll nun der Frage nachgegangen werden, ob und auf welche
Weise die Konfrontation mit der Kritik für die beiden Autoren Bernhard und
Handke auch als Motor der Produktivität fungierte. Die in Pierre Bourdieus
Kultursoziologie formulierte Einsicht, dass jede Positionierung im literarischen
Feld ihren „distinktiven Wert“ aus der „Abgrenzung zu den bestehenden Posi-
tionierungen“ bezieht,8 ist dafür von entscheidender Bedeutung – bürgen doch
im Fall der beiden Autoren gerade die pointierten Gegnerschaften, die öffent-
lich oder privat ausgetragenen Konflikte und Fehden, für die Individualität und
Unverwechselbarkeit ihres künstlerischen Schaffens. Sie sind zudem für die
Lenkung und Verstärkung von Aufmerksamkeit im Hallraum der Medien von
nicht zu unterschätzender Bedeutung. Im fortwährenden und bisweilen mit har-
ten Bandagen geführten „Kampf um Anerkennung“ spielen „Distinktions-“ bzw.
„Erkennungszeichen“, die den einzelnen Akteur unverwechselbar machen,9 eine
zentrale Rolle; die Auseinandersetzungen mit der Literaturkritik, aber auch die
eigenen literaturkritischen Entwürfe sind elementarer Teil dieses Kampfes im
literarischen Feld.
Verrisse und kritisches Feedback führten bei Bernhard, folgt man seinen
einschlägigen Stellungnahmen, ganz dezidiert nicht zur Korrektur des von
ihm verfolgten Kurses. Vielmehr bestärken sie sein literarisches (bzw. in einem
umfassenderen Sinn: sein werkpolitisches) Projekt, für das die Irritation, das
Vor-den-Kopf-Stoßen 10 des Publikums ein wesentlicher Bestandteil war: „Die
Welt will unterhalten sein“, lässt er den gealterten Schauspieler Minetti im gleich-
namigen, 1976 uraufgeführten Stück konstatieren, „aber sie gehört verstört /
verstört verstört“ (TBW 17, 31). Bernhards Idee von Autorschaft gewinnt ihr
ästhetisches Potential ganz wesentlich daraus, „Reaktionen wie Widerstand
oder Ausgrenzung“ zu provozieren, um diesen „Effekt“ des Agierens in der
öffentlichen Sphäre gezielt für sich zu nutzen;11 das Image des unangepassten,
mit seinem Werk stets auf Unverständnis stoßenden Künstlers wird im Sinne
eines quod erat demonstrandum bestätigt; der Autor erlangt, so will es diese
(auto-)biographische Legende, Kraft und Motivation gerade aus der Ablehnung
seiner schärfsten Feinde.
8 Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. Kritische Vorbemerkungen und methodologische Grund-
sätze. In: P. B.: Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches Feld. Schriften zur Kultursoziologie
4. Hg. v. Franz Schultheis u. Stephan Egger. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 309 – 337, hier S. 313.
9 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1999, S. 253 f.
10 Schon in der Erzählung Am Ortler (1971) ist vom radikalen „Vordenkopfstoßen“ (TBW 14, 183)
die Rede, und Franz-Josef Murau schließlich betont in Auslöschung (1986), er sei „in [s]einen
Vordenkopfstoßmitteln nicht wählerisch“ (TBW 9, 241).
11 Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. In: P. B.: Kunst und Kultur (Anm. 8), S. 339 – 447, hier
S. 367. Kraft durch Feinde: Eine Art Epilog 399
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471