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36 Einführung
Cynthia Miller-Idriss formulierte Idee der »everyday nationhood« weiter.64
Beide Konzepte versuchen die Gefahr einer dichotomischen Perspektive zu
vermeiden, in der die Menschen entweder ethnisch-national vollkommen
»bewusst« oder »national indifferent« seien. Das Konzept von »everyday
ethnicity« (oder »everyday nationhood«) begreift die Ablehnung nationalis-
tischer (externer) Erwartungen und das praktizierte Bewusstsein einer eth-
nisch-sprachlichen Identität nicht als dichotomische Entweder-Oder-Optio-
nen, sondern als gleichzeitige Phänomene. Dieses Konzept bedeutet insofern
keinesfalls einen alltäglichen (politischen) Nationalismus, es ist vielmehr das
unpolitische Bewusstsein, national different zu sein (was das Zusammenle-
ben auf der lokalen Ebene bzw. im imperialen Rahmen nicht ausschließt).
Daher spricht Maria Todorova etwa vom »weichen Nationalismus« (»weak
nationalism«), der nicht als Gegenpol eines »harten Nationalismus« zu ver-
stehen sei, sondern vielmehr das Hauptmerkmal der ethnisch-nationalen
Zugehörigkeit, deren Weichheit, Flexibilität, Situativität und Wechselbarkeit
zum Ausdruck bringen solle.65
Dies zeigte sich besonders bei der Sprachenfrage.66 Auch wenn einerseits
die Mehrsprachigkeit in vielen Teilen des oberadriatischen Raumes verbrei-
tet war und andererseits die nationalistischen Diskurse die alltägliche Reali-
tät nur begrenzt widerspiegelten, benutzten die meisten Menschen doch eine
Sprache, mit welcher sie sich identifizieren konnten und anhand welcher sie
sich bestimmten und verorteten. »Nationale Indifferenz«, etwa im Sinne vom
Desinteresse an nationalistischen, nationsbezogenen Themen, kann auf der
lokalen Ebene durchaus attestiert werden. Aber es bedeutete keinesfalls eine
»sprachliche Indifferenz«.67 Dass die Menschen eine Muttersprache hatten
und dass sie sich daran orientierten und damit identifizierten, war in der
letzten Hälfte des 19.
Jahrhunderts auch in der Habsburgermonarchie, sogar
in den ländlichen Gebieten, immer stärker präsent.68
64 Jon Fox / Cynthia Miller-Idriss, Everyday Nationhood, in: Ethnicities 8 (2008),
S. 536–563, hier S. 536ff.; dazu auch Jon E. Fox / Maarten Van Ginderachter,
Introduction. Everyday Nationalism’s Evidence Problem, in: Nations and Nation-
alism 24 (2018), S. 546–552, hier S. 546f.
65 Maria Todorova, Is There Weak Nationalism and Is It a Useful Category?, in:
Nations and Nationalism 21 (2015), S. 681–699, hier S. 686.
66 Zur Sprachenfrage in der späten Habsburgermonarchie siehe Markian Proko-
povych u. a. (Hg.), Language Diversity in the Late Habsburg Empire, Leiden 2019.
67 Gerald Stourzh, The Ethnicizing of Politics and »National Indifference« in Late
Imperial Austria, in: Ders., Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausge-
wählte Studien 1990–2010, Wien u. a. 2011, S. 283–323, hier S. 303ff.
68 Konrad Clewing, Staatensystem und innerstaatliches Agieren im multiethnischen
Raum. Südosteuropa im langen 19.
Jahrhundert, in: Ders. / Oliver Jens Schmitt (Hg.),
Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg
2011, S. 432–553, hier S. 505f.
Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Titel
- Umkämpfte Kirche
- Untertitel
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Autor
- Péter Techet
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Abmessungen
- 15.9 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303