Seite - 110 - in Umkämpfte Kirche - Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
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110 Österreichisches Küstenland
Ob Don Ragusin
– der eigentlich einen typisch venezianisch-istrianischen
Nachnamen trug – kroatischer Abstammung war, ist den Quellen – außer
den Beschimpfungen, denen aber italienischsprachige Priester anderswo
ebenso ausgesetzt wurden – nicht eindeutig zu entnehmen. Der italienisch
und nationalliberal eingestellte Magistrat von Grisignana / Grožnjan rech-
nete ihn jedenfalls den »Kroaten« zu, weil er kroatische Predigten einführte
und für die kroatischsprachige Landbevölkerung in einer Privatkapelle auf
dem Land eigene Gottesdienste zelebrierte.102 Die südslawische Bevölkerung
musste zuvor aus den kleineren Dörfern in die größere Ortschaft gehen, um
dort an einem lateinisch gelesenen Gottesdienst teilzunehmen. Insofern
stellte die priesterliche Initiative, den ländlichen und südslawischen Bauern
die Gottesdienste räumlich wie sprachlich näherzubringen, einen Beitrag zur
sozialen Emanzipation dar – trotz der bizarren Behauptung des Stadtmagis-
trates, dass die Bauern die von Don Ragusin eingeführten kroatischen Pre-
digten in der Messe nicht einmal verstanden hätten.103
Don Ragusin wurde seitens des nationalliberalen Stadtmagistrates bezich-
tigt, »einen stillen Krieg gegen das zivile Element des Landes« zu führen und
dabei Hass unter den kroatischsprachigen Bauern »gegen die Italiener« zu
schüren.104 Er wurde in eine kroatisch-nationalistische Ecke gestellt, als ob
er
– wie ein Protestbrief des Bürgermeisters (podestà) gegen ihn formulierte
–
»mehr eine politisierende kroatische Person, als Gottes Diener« gewesen
sei.105 Der Bürgermeister bezeichnete Don Ragusin als »fanatischen kroati-
schen Agitator«. Dabei verwickelte sich der Bürgermeister jedoch in Wider-
sprüche. Er meinte, dass sein Protest gegen den Pfarrer unpolitisch gewesen
sei – gleichzeitig betonte er ein politisches Argument, die angebliche Not-
wendigkeit, die italienische Kultur der Gegend zu schützen.106 Dieser Aspekt
war eindeutig nationalpolitisch. Bischof Šterk meinte hingegen, dass die
Mehrheit der Pfarrgemeinde kroatischsprachig sei und nur eine kleine ita-
lienischsprachige Minderheit die kroatischsprachigen Predigten ablehne.107
Die Zahlen zeigen aber eine andere Realität: Nach der Volkszählung von
1900 benutzte eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung das Italienische
als Umgangssprache. Im ganzen Gerichtsbezirk von Grisignana / Grožnjan
gaben 3.669 Menschen das Italienische als ihre Umgangssprache an, daneben
102 Protestbrief des Stadtmagistrates gegen den Pfarrer an die Statthalterei in Triest
(30. Juni 1900), in: Ebd., 1776/1900.
103 Ebd.
104 Ebd. [übersetzt aus dem Italienischen von mir].
105 Protestbrief des Bürgermeisters (podestà) gegen Don Ragusin (23.
September 1901),
in: Ebd., kut. 74, fasc. D1, 366 – 01 – D1 [übersetzt aus dem Italienischen von mir].
106 Brief des Bürgermeisters von Grisignana / Grožnjan an die Wiener Nuntiatur
(30. Juli 1901), in: AAV, ANV, b. 692, fasc. 7 (XIII), fol. 327f.
107 Brief vom Bischof Šterk an die Wiener Nuntiatur (13. April 1901), in: Ebd., fol. 325.
Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Titel
- Umkämpfte Kirche
- Untertitel
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Autor
- Péter Techet
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Abmessungen
- 15.9 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303