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162 Österreichisches Küstenland
schen Korrespondenzen zwischen Wien und dem Hl.
Stuhl zu lesen. Mit den
weniger als tausend Einwohnern, von denen viele die Abhängigkeit von einer
anderen Pfarrei und die Zahlungen an den dortigen Pfarrer nicht mehr hat-
ten erdulden wollen und daher ihren Austritt aus der römisch-katholischen
Kirche erklärten, beschäftigte sich also auch die »hohe Politik«. Weil sich
das Dorf in der Nähe des nationalpolitisch umkämpften Triest befand, geriet
der lokale Wunsch, sich gegenüber der örtlichen, ebenso slowenischspra-
chigen Pfarrei behaupten zu können, in einen nationalpolitischen Kontext.
Ricmanje wurde dadurch zu einem Inbegriff des nationalen Widerstandes.
Immer wieder wurde das Dorf in diesem Sinne als drohende Gefahr herauf-
beschwört. Ein Beispiel dafür: Nachdem Papst Pius X Ende Dezember 1906
mit einem Dekret die früheren Zugeständnisse an die altslawische Liturgie-
sprache praktisch im ganzen oberadriatischen Raum beseitigt hatte, formu-
lierte ein Brief, der Anfang 1907 aus der dalmatinischen Landeshauptstadt
Zara / Zadar das österreichische Außenministerium erreichte, die folgende
Drohung: »[Dieses Attentat auf unser Heiligthum] könnte, wie ich befürchte,
schwere Folgen für Rom und Wien haben. Es könnte ganz Dalmatien in Ric-
manje verwandeln.«339 Ein einfacher Hinweis auf den Dorfnamen genügte,
den makrogeschichtlichen Kontext der »Nationalitätenfrage«, besonders
bezüglich der katholischen Kirche, zu aktivieren.
Ricmanje und seine Geschichte lassen sich aber nicht aus einem einzigen,
sogar entkontextualisierten Konfliktmoment wie etwa der Forderung nach
muttersprachlichen Gottesdiensten verstehen. Wie sich die Dorfbewohner
verorteten, kann nicht anhand äußerlicher Zuschreibungen beantwortet wer-
den
– sondern nur aus der Komplexität verschiedener Momente, in denen der
Wille, sich zu behaupten, zum Ausdruck kam. Dieser Wille formulierte sich
nicht entlang dem nationalen Gegensatz zwischen »Slowenen« und »Italie-
nern«. Einerseits war die lokale Forderung nach muttersprachlichen Messen
eher pragmatisch motiviert: Nicht eine »nationale« »Zugehörigkeit«, sondern
die territorial-lokale Selbstverortung drückte sich darin aus. Die Loslösung
von einer anderen slowenischsprachigen Pfarrei sowie der Wunsch, die
katholischen Messen statt in einer toten Sprache (wie der lateinischen) in
der eigenen slowenischen Muttersprache beten und singen zu können, waren
keineswegs nationalistisch motivierte Forderungen.
Im ländlichen Kampf um die Sprache fehlte andererseits der konkrete
»nationale« Gegner. Es ist der zweite Grund, warum Ricmanje nicht als Teil
des »Nationalitätenkonfliktes« zu betrachten ist. Die Frontlinien bezüglich
und innerhalb des Kirchenstreites in Ricmanje verliefen nicht zwischen den
339 Brief aus Zara / Zadar (24. Februar 1907) [ohne Hinweis auf Autor], in: ÖStA,
HHStA, PA XI 261, Slawische Liturgie V/7, fol. 43 [übersetzt in deutscher Sprache
vom Außenministerium].
Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Titel
- Umkämpfte Kirche
- Untertitel
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Autor
- Péter Techet
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Abmessungen
- 15.9 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303