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238 Ungarisch-Kroatisches Küstenland
aktiver Forderungen. Eine proaktive Handlung unterstützt Ansprüche, »die
zuvor noch nicht erhoben wurden«.289 Die Bewohner in den Dörfern von
Lika-Krbava oder in Drenova wollten aber keine neue Situation herbeifüh-
ren – sie wollten die bestehende Lage beschützen. Sie wehrten sich gegen
die konkurrierenden oder proaktiven Ansprüche der »hohen Politik«. Der
Konkurrenzkampf war nicht auf der lokalen Ebene anzutreffen. Was im
österreichischen Teil auf der lokalen Ebene ausgetragen wurde, die Kon-
kurrenzkämpfe um die lokale Deutungshoheit, verortete sich im ungarisch-
kroatischen Teil eine Ebene »höher«, unter den Akteuren der staatlichen,
städtischen oder kirchlichen Obrigkeiten. Sie konkurrierten von oben um
die lokale Deutungshoheit, während sich die lokale Ebene aktiv gegen diese
Ansprüche wehrte.
Ich begreife insofern den lokalen Widerstand der Bauern in Perušić, Kri-
viput, Klanac (usw.) oder Drenova gegenüber den Homogenisierungen ihres
Kirchenlebens nicht als nationale Indifferenz oder vormoderne Rückstän-
digkeit, sondern als Abwehrreaktion eines ländlichen Mikrokosmos, der seine
nationale »Identität«, Muttersprache, Religion (usw.) nicht nach den externen
Erwartungen und Normen der kirchlichen oder staatlichen Obrigkeit oder
der nationalen Agitatoren erleben wollte. Die Dorfbewohner in Kriviput,
Perušić (usw.) oder Drenova strebten im Konflikt nicht die Änderung der
Herrschaftsstrukturen (oder der Herrschaftsdiskurse) an. Daher lässt sich
das Konzept des opportunistischen »Eigensinns« der deutschen Arbeiter, wie
Alf Lüdtke es entwickelte, auch auf die lokale »Welt« (svjet) gut anwenden. Im
Falle des bäuerlichen Widerstands handelte es sich ebenso um »Anstrengun-
gen zur Distanz gegenüber Zumutungen »von oben« wie von »nebenan««.290
Der Wunsch, keine Änderungen erdulden zu müssen, war nicht national-
oder kirchenpolitisch motiviert – indem sich aber der Wunsch gegen nati-
onal- und kirchenpolitische Vorstellungen der »großen Politik« richtete,
geriet er in ein Diskursfeld, in dem die lokalen Lebensweisen nach externen
Kategorien bezeichnet wurden. In diesem Moment wurden die Dorfbewoh-
ner zu einfachen Objekten unterschiedlicher städtischer Elitediskurse. Die
Dorfbewohner waren nicht in der Machtposition, sich und ihre Wünsche
dagegen zu artikulieren: Ihr Kirchenleben war von kirchlichen Entscheidun-
gen bestimmt (etwa mit der Einführung einer nicht gewollten Liturgiespra-
che) und von nationalistischen Diskursen (etwa mit den Vorwürfen, national
indifferent zu sein) beschrieben.
289 Tilly, Hauptformen kollektiver Aktionen, S. 156.
290 Alf Lüdtke, Wo blieb die »rote Glut«? Arbeitererfahrungen und deutscher Faschis-
mus, in: Ders. (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrun-
gen und Lebensweisen, Frankfurt a. M. / New York 1989, S. 224–282, hier S. 262.
Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Titel
- Umkämpfte Kirche
- Untertitel
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Autor
- Péter Techet
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Abmessungen
- 15.9 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303