Seite - 251 - in Umkämpfte Kirche - Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
Bild der Seite - 251 -
Text der Seite - 251 -
251Erfolgschancen
der lokalen Akteure
Im Gegensatz dazu erschien das nationale Vokabular (also die nationalpo-
litische Interpretation der Fälle) im ungarisch-kroatischen Küstenland erst
auf der Beobachtungsebene, das heißt unter den städtischen, kirchlichen,
staatlichen Akteuren, die die Konflikte von außen her (von oben her) beob-
achteten. In den Kirchengemeinden von Lika-Krbava reagierte die lokale
Ebene auf die »Nationalisierung« nicht den Erwartungen entsprechend:
Die Menschen verorteten sich außerhalb des nationalen Vokabulars, auch
wenn sie sich gleichzeitig ihrer nationalen Abstammung und Muttersprache
bewusst waren. In Drenova verwendeten die lokalen Akteure keine national
konnotierten Kategorien, sie wehrten sich dagegen, durch solche Kategorien
»von außen her« wahrgenommen und beschrieben zu werden.
War das Österreichische Küstenland also national bewusster? Waren die
ethnisch-sprachlichen Differenzen auf der lokalen Ebene dort ausgeprägter,
während sie im ungarisch-kroatischen Teil nur Elitendiskurse bzw. geschei-
terte Versuche darstellten, die lokale Ebene für diese Diskurse zu gewinnen?
Mit einem modernistischen Ansatz, der die voranschreitende Nationali-
sierung als lineare Modernisierung versteht,28 wäre dieser Unterscheid mit
verzögerten Entwicklungsetappen, einem »Verzögerungszusammenhang
sozial-struktureller und kollektiv-mentaler Art als Antithese gegenüber der
nationalen Emanzipations- und Reformtendenz« zu erklären.29 Eine solche
Perspektive würde zur Annahme führen, dass etwa das österreichische, länd-
liche Istrien national bewusster (und dadurch »moderner«) gewesen wäre als
das ländliche Hinterland der ungarischen Hafenstadt Fiume / Rijeka.
Meine Annahme weist allerdings in die andere Richtung. Ich gehe davon
aus, dass die lokale Ebene, trotz der Grenze zwischen Österreich und Un-
garn, eigentlich (sozial, religiös, ethnisch-national) ähnlich strukturiert
und bedingt war. Wieso erschien dann das nationale Vokabular im öster-
reichischen Teil stärker auf der Handlungsebene, das heißt unter den kon-
kret agierenden Menschen? Wieso bedienten sie sich eines Vokabulars, das
im ungarisch-kroatischen Teil anscheinend eher in den Elitendiskursen an-
zutreffen war? Die Frage, wieso sich ähnliche Konflikte in den zwei Teilen
einer ähnlichen Region unterschiedlich äußerten, lässt sich, meiner Annah-
me nach, durch den Bedeutungsunterschied der »Nationalitätenkonflikte«,
die Zugangsmöglichkeiten zur politischen Öffentlichkeit und die dadurch
bedingten Artikulationsmöglichkeiten in Österreich und Ungarn erklären.
28 Dieser Ansatz geht von einer verzögerten »nationalen Emanzipation« und insofern
einer verzögerten Modernisierung unter den bäuerlichen Bevölkerungsteilen aus,
vgl. dazu u. a. Horst Haselsteiner u. a., Zum Begriff des Nationalismus und zu sei-
nen Strukturen in Südosteuropa im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts, in: Österreichische Osthefte 20 (1978), S. 58.
29 Schödl, Kroatische Nationalpolitik und »Jugoslavenstvo«, S. 19.
Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Titel
- Umkämpfte Kirche
- Untertitel
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Autor
- Péter Techet
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Abmessungen
- 15.9 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303