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258 Ausblick
gezwungen, sich ethnisch-national eindeutig zu positionieren
– und zwar im
Rahmen einer Nationalstaatlichkeit, wo diese Positionierung mit staatlichen
Vor- oder Nachteilen, sogar möglichen Repressionen, gesellschaftlichen Aus-
grenzungen und Stigmatisierungen einherging und einhergeht. Menschen,
die sich in ihren multiplen Identitäten im imperialen Rahmen der Habsbur-
germonarchie gut verorten konnten, gerieten somit in Situationen, in denen
ihre Lebensweise immer mehr von staatlicher Seite infrage gestellt und
bedroht wurde. Auch wenn Robert Musil das Habsburgerreich sarkastisch
als »ein Land für Genies« auffasste und den Grund seines Scheiterns eben
darin erblickte,3 konnten sich viele »einfache« Menschen in seinem Rahmen
einrichten. Die in dieser Arbeit dargestellten Konflikte zeigten ebenso gesell-
schaftliche Dynamiken, welche durch das Imperium vielmehr ermöglicht als
erstickt wurden.
Die Geschichte von Menschen, die sich in lokalen Konfliktfällen und
Gewaltmomenten behaupteten oder bewährten, ist eher eine Geschichte der
Verlierer. Nicht ihre Interessen und Ziele, sondern jene der in der Arbeit kri-
tisierten nationalistischen Agitatoren bestimmten das 20. Jahrhundert. Die
Geschichte wird, besonders im posthabsburgischen Ostmitteleuropa, oft als
Geschichte der Nationen und ihrer Siege rückwärts erzählt.4 Dabei stellt sich
die Frage, wo die Akteure meiner Arbeit vorzufinden sind. Einige gelangten
freilich in das Pantheon der jeweiligen Nationen, weil die von ihnen ange-
stachelten Konflikte als »Erwachen der Nation« erinnert und erzählt wer-
den. All die Menschen jedoch, die ihren Glauben oder ihre Muttersprache im
imperialen Rahmen erleben konnten und die in ihren Konflikten die loka-
len, aber nicht die staatlichen Verhältnisse verändern wollten, werden dabei
ausgeklammert und vergessen. Siege werden erinnerungs- und geschichts-
politisch aufrechterhalten – insofern gehört die von Siegern geschriebene
Geschichte in die Politik. In der longue durée zeigen sich Aspekte, die in
einem konkreten historischen Moment als überholt erscheinen, aber »aus
der Geschichte« dennoch nicht wegzuschaffen sind.5 Verlierer können in der
Geschichte wieder zu Wort kommen.6 In der Historiographie sowie der Erin-
nerungspolitik der posthabsburgischen Gesellschaften – eher auf den gesell-
schaftlichen, als auf den staatlichen Ebenen – erscheinen die vergessenen
3 Zitiert nach der Ausgabe: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und
Zweites Buch, Hamburg 2014, S. 35.
4 Corine Defrance / Catherine Horel, Réalités, perceptions et usages de la défaite
en Europe, in: Dies. u. a. (Hg.), Vaincus! Histoires des défaites, Paris 2016, S. 9–28,
hier S. 16f.
5 Reinhard Koselleck, Erfahrungswechsel und Methodenwechsel. Eine historisch-
anthropologische Skizze, in: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem
Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2003, S. 27–77, hier S. 67ff.
6 Matthieu Jestin / François-Xavier Nérard, Le temps des défaites, in: Defrance
u. a.,
Vaincus!, S. 311–326, hier S. 325f.
Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Titel
- Umkämpfte Kirche
- Untertitel
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Autor
- Péter Techet
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Abmessungen
- 15.9 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303