Seite - 32 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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einem Zweck dienten, auch nicht, daß sie sich durch Wohlverhalten ihm gegen-
über bewähren mußten, sondern daß es ihm einzig um die Person und um das
Werk ging“.87 Ob diese Aussage sich bestätigt, wird in der Folge nachzugehen
sein (vgl. Kapitel 4.2.1).
Kraus’ langjähriger Mitarbeiter Otto Breicha erinnert sich an die Leere im
Literaturbetrieb, welche die ÖGL innerhalb kürzester Zeit füllte:
Die Literatur hatte auf einmal in Wien eine ‚Adresse‘. Kraus hat sie vom Fleck weg
zu einem Ansprechpartner für alles mögliche gemacht. Und weil es nichts in die-
ser Hinsicht gab, war das alles leicht und schwierig zugleich. Ausgesprochene Lite-
raturcafés (im Sinn, wie das Raimund und das Hawelka welche gewesen waren)
gab es nicht mehr. Der österreichische P.E.N.-Club funktionierte kaum mehr (oder
besser: noch immer nicht). Der Gegen-P.E.N., die Grazer Autorenversammlung
war noch nicht gegründet. Rundfunk und Fernsehen blockten (d.h. blockierten)
wie eh und je. Und dort, wo allenfalls Mittel anzuzapfen gewesen wären, führte
sich Rudolf Henz, der Verfasser des Dollfußliedes, auf wie ein Bischof Krenn der
österreichischen Gegenwartsliteratur. Es gab auch so gut wie keine Veranstalter,
denen man ersprießliche Lesungen höher zumuten konnte. In diesem Niemands-
land ist die [ÖGL] mit ihren Aktivitäten eingesprungen.88
Ein weiterer wichtiger Programmpunkt war die Einladung von Schriftstellerin-
nen und Schriftstellern aus dem „Einzugsgebiet“ der ehemaligen Habsburger
Monarchie, das nach 1945 zur sowjetischen Einflusszone geworden war. Wie
sich der ehemalige Bundeskanzler Josef Klaus erinnert, der sich in kulturpoliti-
schen Angelegenheiten oft mit Kraus beriet, nahm die Regierung diese „Initia-
tive dankbar zur Kenntnis und förderte sie nach Kräften“,89 betont jedoch gleich-
zeitig, dass diese Aktivitäten von Kraus und der ÖGL auf einer Ebene außerhalb
der Regierung geschahen, denn „es gab kein ‚Fahren Sie nach Lemberg‘ oder
‚Fahren Sie nach Budapest und reden Sie mit dem oder jenem‘.“90
Auch als Herausgeber war Kraus bereits zu Ullstein-Zeiten aktiv; er edierte Aus-
wahlausgaben der Werke von Epiktet (1950), Friedrich Nietzsche (1950), Imma-
nuel Kant (1952), Novalis (1953), Voltaire (1956) und Oscar Wilde (1957). In
87 Anna Mitgutsch: Wolfgang Kraus als Förderer junger SchriftstellerInnen, in: Bassola, Kiss (Hg.):
Literatur als Brücke zwischen Ost und West, S. 64.
88 Otto Breicha: Eine Art Literatursalon (und viel mehr als das). Die Österreichische Gesellschaft
für Literatur. In: Parnass (1995), Nr. 9/10, S. 114–117, hier S. 115.
89 Josef Klaus: Ich ging den anderen Weg. In: Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von
Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich
Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1999, S. 13–63, hier S. 55.
90 Ebd.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
32 Einleitung
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437