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Universität Sofia (1993). Der Literaturwissenschaftler Eduard Goldstücker, mit
dem sich ein beträchtliches Stück tschechoslowakischer Zeitgeschichte verbin-
det, vergaß nicht das Engagement von Kraus für die „tschechischen und slowa-
kischen Intellektuellen, die sich nicht der Gunst des Regimes erfreuten“ und die
„allseitige moralische und materielle Hilfe“,120 die er ihnen angedeihen ließ, und
schlug ihn, – Anfang der 1990er Jahre beim damaligen Präsidenten der Tschechos-
lowakei Václav Havel –, für einen Orden vor, mit dem Kraus am 4. Dezember
1991, zur Feier des dreißigjährigen Bestehens der ÖGL, geehrt wurde.
Zuletzt war Kraus angeboten worden, das Österreichische Literaturarchiv der
Nationalbibliothek als Direktor zu leiten, was in den österreichischen Medien
zu einer Kontroverse führte.121 Noch im Alter von 67 Jahren wurde Kraus als
Spitzenkandidat von Erhard Busek für eine neue „Nebenbeschäftigung“ ausge-
wählt. Kraus sollte zum Leiter des in Planung befindlichen Literaturarchivs
bestellt werden, was jedoch schlussendlich am Widerstand von Seiten Magda
Strebls, der damaligen Direktorin der Nationalbibliothek, sowie der Partei Die
Grünen scheitern sollte. Dem Plan Buseks zufolge wäre es Kraus’ Aufgabe gewe-
sen das Literaturarchiv einzurichten und in der Aufbauphase zu betreuen. Den
Grünen unter Johannes Voggenhuber war die Doppelbeschäftigung von Kraus
durch das Ministerium ein Dorn im Auge, ebenso der Grazer Autorinnen- und
Autorenversammlung, die dadurch „einfach das alte Feudalsystem“122 angewandt
sah. 1996 übernahm der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler das Literatur-
archiv der Österreichischen Nationalbibliothek.
Im Februar 1994 trat Kraus als Leiter der ÖGL zurück, blieb aber Ehrenvor-
stand und verantwortete weiterhin die Einladung wissenschaftlicher Stipendia-
tinnen und Stipendiaten. Neue Leiterin wurde die Schriftstellerin Marianne
Gruber, die von Kraus bereits ein Jahr zuvor in die Gesellschaft geholt worden
war.123
Gestorben ist Wolfgang Kraus am 20.
September 1998 in Lienz (Osttirol), an den
Folgen eines Schlaganfalls, den er während eines Spazierganges erlitt, der ihn in
ein sechs Monate dauerndes Koma versetzte. Die Nachrufe waren zahlreich,
120 Abschrift eines Briefes von Eduard Goldstücker an Václav Havel, 3. November 1991, NL WK.
121 hai [d.
i. Hans Haider]: Mehr Kuhhandel als Dankbarkeit? In: Die Presse, 15.
Mai 1991. „Faus-
tpfand, Tauschobjekt werden in einem Kuhhandel unter prekären familiären Vorzeichen? Das
hat Wolfgang Kraus nicht nötig. Daß Dankbarkeit keine politische Kategorie ist, sagte einst
Bruno Kreisky. Erich Fried, wäre er noch am Leben, hätte seine linken Freunde zurückgepfif-
fen. […] Kraus bemühte sich wie kein zweiter in Österreich, Mängel auszugleichen. Er hat dabei
der Literatur mehr genützt als geschadet.“
122 Michael Cerha: Nebenjob für Wolfgang Kraus. In: Der Standard, 11./12. Dezember 1991.
123 N.
N.: Gesellschaft für Literatur unter neuer Leitung. In: Der Standard, 11.
Februar 1994, S. 9.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
40 Einleitung
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437