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Zeitschriften- und Anthologienbeiträgern“,81 was dazu geführt hatte, dass seine
Werke nach 1945 auf der „Liste der gesperrten Autoren und Bücher“82 standen.
Seine Bücher wie Heimfahrt (1950) und Ein Schloß in Österreich (1953) chan-
gieren zunächst zwischen traditionell und antimodernistisch, mit Ein Schritt
hinüber findet er Anschluss an moderne Schreibweisen, was sich darin äußert,
dass der Text, ebenso wie seine folgenden Werke – darunter Volterra (1962) und
Aufschreibung aus Trient (1965) – bei Suhrkamp erschienen. Tumler, der sich
von seinem ideologisch aufgeladenen Frühwerk distanzierte und der „Gruppe
47“ annäherte, wurde Mitglied und später Leiter der „Abteilung Literatur“ der
Berliner Akademie der Künste. In der ÖGL trat er insgesamt viermal auf, dar-
unter mit einer Buchpräsentation der Aufschreibung aus Trient im November
1965. Weitere Lesungen folgten im Oktober 1969 und 1970 sowie im Dezember
1972.
Bei genauer Durchsicht des Programms hinsichtlich ideologischer Interfe-
renzen finden sich Konstellationen von Eingeladenen innerhalb einer Veranstal-
tung, die einander ideologisch und ästhetisch diametral gegenüberstanden und
die Kluft zwischen Exilierten und „Dagebliebenen“ drastisch verdeutlichen. Am
10. September 1964 wurden etwa „Neue Bücher österreichischer Autoren“ vor-
gestellt, darunter Elias Canettis bei Hanser erschienener Band Dramen, Franz
Karl Franchys Die Brandgasse und Friedrich Schreyvogls Ein Jahrhundert zu
früh. Zu den Lesungen leitete Kraus mit einem Gespräch mit den zwei anwesen-
den Autoren Franchy und Schreyvogl ein. Schreyvogl, der vor 1938 als Vor-
standsmitglied des „Bundes der deutschen Schriftsteller Österreichs“ die natio-
nalsozialistische Infiltration des österreichischen Kulturlebens gefördert hatte83
und nach 1945 wieder als Vizedirektor und Chefdramaturg des Burgtheaters
reüssieren konnte, stand hier dem siebenbürgischen Schriftsteller Franchy, der
in dem vorgestellten Roman das Schicksal einer jüdischen Familie darstellte,
und dem Exilanten Canetti (der nicht anwesend war) gegenüber. Schreyvogl,
der vollends in das literarische Leben nach 1945 reintegriert war, was sich an
seinen literaturpolitischen Funktionen ebenso wie den an ihn verliehenen Aus-
zeichnungen und Preisen ablesen lässt, muss „als Symbol und Garant des Öster-
reichischen schlechthin verstanden“84 werden. Ob diese Konstellation Absicht
war oder sich nur dem zufälligen gleichzeitigen Erscheinungsdatum der vorge-
81 Karl Müller: Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der literarischen Antimoderne Österreichs
seit den 30er Jahren. Salzburg: Otto Müller 1990, S. 274.
82 Vgl. Barbara Hoiß: Vor-Satz und Nachschrift. Franz Tumlers Suche nach den Sätzen der Wirk-
lichkeit. In: Dies. (Hg.): Donau – verzweigt. Schreiben unter und nach dem Nationalsozialis-
mus. Linz: Land Oberösterreich, StifterHaus 2008 (= Literatur im StifterHaus 20), S. 49–102.
83 Vgl. Gerald Tuma: Friedrich Schreyvogl. Vom Ständestaatpoeten zu einem NS-Apologeten.
Univ.-Dipl. Wien 1996.
84 Müller: Zäsuren ohne Folgen, S. 223.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 103
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437