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wird“.105 Melzer konstatiert eine auffällige Gleichzeitigkeit, da in diesem Zeit-
raum nicht nur Peter Handkes Kolleginnen und Kollegen aus dem Kreis des
Forum Stadtpark, sondern auch „die Autoren der ‚Wiener Gruppe‘ und ihre
Wegbegleiter Jandl, Mayröcker und Okopenko Verleger und öffentliche Reso-
nanz“106 finden.
Hinsichtlich dieser Verschiebungen im literarischen Feld ergaben sich auch
Konsequenzen für die Einladungspolitik der ÖGL. Dass für Kraus „im Ästheti-
schen […] die europäische Avantgarde die alte ‚Ordnungsidee‘“ bedrohte, wie
dies Horst Ebner in einem Artikel für die Wiener Stadtzeitung „Falter“ in den
1990er Jahren behauptete, mag bis zu einem gewissen Grad Richtigkeit besitzen
(vgl. dazu Kapitel 4). Nur seinem Urteil über die „verzögerte Präsentation des
Nichtepigonalen“107 in der ÖGL ist nicht zu folgen.
Wie es sich mit der ÖGL und jenen Autorinnen und Autoren verhielt, die
sich als Avantgarde im literarischen Feld positionierten, verrät ein Blick ins Pro-
gramm. 61 Veranstaltungen waren Schreibenden gewidmet, die den modernen
Strömungen zuzurechnen sind, darunter auch Autorinnen und Autoren, die mit
Erstlingstexten an die Öffentlichkeit traten, wie z. B. Wolfgang Bauer, Barbara
Frischmuth, Peter Handke, Michael Scharang und Klaus Hoffer, deren „Ausei-
nandersetzung mit inneren, syntaktisch-morphologischen Strukturen der Spra-
che, wenn überhaupt, eher beiläufig“108 erfolgt. Im Vordergrund dieser Literatur
stand mehr der Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft unter politischen
Vorzeichen, und alle diese Autorinnen und Autoren traten im Verlauf der zwei-
ten Hälfte der 1960er Jahre mindestens einmal in der ÖGL auf.
Am 31. Jänner 1967 lasen Hoffer und Frischmuth „unter der Führung des
literarischen ‚Manuskripte‘-Redakteurs“ Alfred Kolleritsch in der ÖGL, dessen
„bekanntester Protagonist [d.
i. Peter Handke, Anm. d. Verf.] nicht mit von der
Partie“109 war. Ein Rezensent betonte, dass es „verlorene Liebesmüh“ sei, sich
„nach Wien zu orientieren“, da dort weder Verleger noch „sonstiges Echo“ zu
finden seien: „Man weiß gerade noch, daß da unten in der Steiermark so ein
avantgardistischer Zirkel Bürger schreckt und sich von Zeit zu Zeit mit den
Behörden anlegt – mit einem Wort kulturell aktiv ist.“110
105 Gerhard Melzer: Die „Grazer Gruppe“. In: Žmegač (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur
vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. III/2, S. 770–789, hier S. 774.
106 Ebd.
107 Horst Ebner: Kafka, Fink und Guglhupf. In: Falter, Nr. 5, 4.-10. Februar 1994, S. 55.
108 Melzer: Die „Grazer Gruppe“. In: Žmegač (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18.
Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. III/2, S. 772.
109 L.
L.: Gut gekocht ist halb gewonnen. Das Forum Stadtpark war in der Literaturgesellschaft zu
Gast. In: Kurier, 31. Jänner 1967.
110 Herbert Berger: Mißtrauen gegen die Wirklichkeit. Drei Autoren des Grazer „Forum Stadt-
park“ lasen in Wien. In: Volksblatt, o. D., Zeitungsausschnittsammlung ÖGL 1967, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 111
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437