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ÖGL zu Gast war, darunter bei den großen „Round-Table-Diskussionen“ 1965
und 1967 sowie mit einem Vortrag zum Thema „Stirbt der deutsche Roman“
(1967), zu einer kleinen Polemik veranlasst: „In der Gesellschaft für Literatur
[…] zeigte mir Wolfgang Kraus eine Liste der österreichischen Schriftsteller. Es
ist eine lange und stattliche Liste. Auch Autoren, die seit dreißig Jahren im Aus-
land leben und kaum noch in deutscher Sprache schreiben, hat man da sorgfäl-
tig registriert. […] Schriftsteller, die möglicherweise […] nur Halb- oder Vier-
telösterreicher sind, wurden von der Gesellschaft, wenn ich mich recht
erinnere, auch berücksichtigt.“170 Unter diesen Voraussetzungen wollte sich
Reich-Ranicki, so merkt er polemisch an, bei Kraus erkundigen, da es „nicht
ausgeschlossen“ sei, dass „einer meiner Vorfahren aus dem k.
u.
k. Gebiet“ stam-
me, ob er „unter diesen Umständen eventuell Chancen hätte, in das Verzeichnis
aufgenommen zu werden?“171
Ein früher Versuch der von der ÖGL ausgehenden Kanonbildung – wobei dies
speziell zur Orientierung für die jüngere Generation gedacht war, also einen
Literatur- bzw. Lektürekanon, der „u. a. der kulturellen Sozialisation Heranwach-
sender im Unterricht als Voraussetzungssystem“172 dient –, wurde 1963 in Koope-
ration mit „Wort in der Zeit“ unternommen. An zahlreiche Schriftsteller und
zentrale Persönlichkeiten des Literaturbetriebs wurde ein Formbrief ausgesandt.
Interessant ist dabei auch, an wen sich die Institution hierbei wandte, denn durch
die kanonische Auswahl einer Gruppe werden auch jene, die über die Deutungs-
macht verfügen, sozusagen mitkanonisiert. Das Ansuchen der ÖGL erging u. a.
an Hans Weigel, Rudolf Henz, Rudolf Felmayer, Heimito von Doderer, Johannes
Urzidil, Andreas Okopenko, Wieland Schmied, Humbert Fink, Ernst Kein, Johann
Gunert, Werner Riemerschmid, Fritz Habeck, Karl Bednarik, Kurt Klinger, Milo
Dor, Felix Braun:
[W]ir beginnen eine Aktion, in der wir bedeutende Autoren nach ihren Vorschlä-
gen befragen, welche Bücher unseres Jahrhunderts als wesentliche Lektüre für jun-
ge Menschen empfohlen werden sollen. Wir haben die Absicht, die Ergebnisse die-
ser Umfrage auszuwerten, zu veröffentlichen und wollen damit auch den
Deutschlehrern in den Schulen eine dringend notwendige Hilfe leisten. Wenn Sie
zu den Werken unseres Jahrhunderts noch einige entscheidend wichtige Werke der
170 Marcel Reich-Ranicki: Wer hat Angst vor Hilde Spiel. In: Ders.: Über Hilde Spiel. München:
dtv 1998, S. 9–15, hier S. 15.
171 Ebd.
172 Clemens Ruthner: Der Literaturkanon zwischen Ästhetik und Kulturökonomie: Theorien und
Definitionen. In: Friedbert Aspetsberger (Hg.): Ein Dichter-Kanon für die Gegenwart! Urteile
und Vorschläge der Kritikerinnen und Kritiker. Innsbruck, Wien, Bozen: Studien-Verlag 2002
(= Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde 13), S. 15–42, hier S. 19.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 127
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437