Seite - 132 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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gewundenen Grenze zwischen dem, was Literatur ist, und dem, was nie Litera-
tur werden kann, ist die Aufgabe des Kritikers, wenn er den Blick auf die Gegen-
wart richtet. Dieser Platz ist in Österreich leer.“ Doderer schlug vor, die ÖGL in
eine „Akademie des Kritizismus“ zu verwandeln und betonte, dass das „so über-
aus seltene kritische Ingenium“185 der Förderung bedürfte und erst dann der
Künstler.
Die ÖGL blieb weiterhin bei den Grundlagen und unternahm eine Bestands-
aufnahme, wie es eigentlich um die Rezeption der österreichischen Literatur
innerhalb des Landes bestellt war: Dies ergab kein aussichtsreiches Panorama. In
der von Milo Dor herausgegebenen Anthologie „Die Verbannten“, die am
11. Dezember 1962 in der ÖGL vorgestellt wurde, findet sich dann auch eine
Anklage gegen den österreichischen Literaturbetrieb, der seine jungen Talente
ausschloss: „In der Kunst und in der Literatur hat diese zahlenmäßig dünnste
Generation mehr hellsichtige Talente hervorgebracht als irgendeine andere öster-
reichische Generation dieses Jahrhunderts. So manches andere Volk wäre stolz
darauf, wenn es eine solche Fülle an verschiedenartigen Begabungen aufzuwei-
sen hätte, das österreichische Volk nimmt sie nicht einmal zu Kenntnis.“186 Dors
Kritik richtet sich hier auch gegen die vorherrschende Kulturpolitik, die viele
belastete Autorinnen und Autoren „entnazifiziert“ hatte; die gesetzlich vorgege-
benen Maßnahmen blieben dabei, was den Literaturbetrieb und die Literatur
selbst betraf, von „seltener Folgenlosigkeit“.187 Anlässlich ihrer Auszeichnung mit
dem Österreichischen Staatspreis für Roman traten neun Tage später Dor und
Hans Lebert, der Auszüge aus Die Wolfshaut in der Anthologie veröffentlicht hat-
te, bei einer „Tandem-Lesung“, die allerdings „nur schwach besucht“, auf.188
Das Thema „Die Situation der Künste in Österreich, Aufgaben, Möglichkei-
ten, Gefahren“ wurde im Mai 1962 behandelt. Die Debatte ergab „eine Bestands-
aufnahme und eine Skala, aus der sich ein untereinander sehr verschiedener
Funktionswert der Künste für die Gesellschaft der Gegenwart ablesen ließ“.189
Eine weitere Diskussion betraf „Die Situation der Verlage in Österreich“, die
im Februar 1963 im Rahmen der Österreichischen Buchwoche stattfand, unter
Beteiligung von Fritz Habeck, Robert Jungk, Karl Edlinger (Paul-Neff-Verlag),
185 Heimito von Doderer an die ÖGL, 4.
Oktober 1962. Österreichische Nationalbibliothek, Samm-
lung von Handschriften und alten Drucken, Autograf 531/37-1. [Als Kopie im NL WK]
186 Milo Dor (Hg.): Die Verbannten. Eine Anthologie. Graz, Wien: Stiasny 1962, S. 6 f.
187 Gerhard Renner: Entnazifizierung in der Literatur. In: Sebastian Meissl, Klaus-Dieter Mulley,
Oliver Rathkolb (Hg.): Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich
1945–1955. Symposion des Instituts für Wissenschaft und Kunst, März 1985. Wien: Verlag für
Geschichte und Politik 1986, S. 202–229, hier S. 204.
188 Jürgen Egyptien: Hans Lebert. Eine biografische Silhouette. Wien: Sonderzahl 2019, S. 178.
189 Herbert Zand: Ein Weg aus der Isolierung. In: Wort in der Zeit 8 (1962), H. 8, S. 32–34, hier
S. 33.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
132 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437