Seite - 135 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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über „die Idee und Realität der eigenen Existenz“ diskutiert werde, dass jedoch
darüber gesprochen werde, beweise, dass „man existiere, sich zu Österreich
bekenne“, was Weigel als einen Fortschritt bezeichnete. Zunächst wurde erho-
ben, was das Ausland von Österreich weiß, und wie Spiel bemerkte, seien die
Begriffe „Realität“ und „Idee“ nicht deckungsgleich, sondern würden einander
überschneiden. Einigkeit bestand darin, dass das Bild, das man sich im Westen
und im Osten von Österreich mache, doch vielfach schablonisiert sei und dar-
auf warte, aufgewertet zu werden. Allmayer-Beck verwies darauf, dass Österreich
stets mehr als die Summe seiner Länder samt der Strahlkraft Wiens gewesen sei
und wollte, um Österreich zu definieren, das Zusammenspiel von „Idee“ und
„Realität“ berücksichtigen. Er zitierte den nach 1945 ob seiner NS-Parteimit-
gliedschaft und der Abfassung einer Literaturgeschichte der deutschen Stämme
und Landschaften (1912–1928) umstrittenen Germanisten Josef Nadler, der das
territoriale und ideelle Österreich mit den Begriffen Griechenland und Hellas
verglichen hatte: „Die Gegenwart ist gar nicht so arg wie sie aussieht, man müß-
te sich nur bemühen, nicht allein in der Vergangenheit zu leben, sondern im
Jetzt, im Heute, vielleicht sogar im Schon.“ Weigel resümierte, dass es „gar nicht
so wichtig [ist], zu sagen, wie der ‚Modus Austriacus‘ zu verstehen sei, als sich
zu ihm zu bekennen“, und für Mikesch war Österreich „vor allem ein Zustand,
darin liegen auch die Valeurs des Landes“.196
Von dieser eher kulturpolitischen Diskussion, die nur mehr peripher Litera-
tur verhandelte, ging die ÖGL wieder zu ihrem eigentlichen Themengebiet zurück:
Im Oktober 1964 fand wieder im Rahmen der „Buchwoche“ die Debatte „Gibt
es Maßstäbe der Literaturkritik?“, geleitet von Friedrich Torberg, statt. Daran
beteiligt waren mit Marcel Reich-Ranicki („Die Zeit“), Hellmut Jaesrich („Der
Monat“) renommierte Persönlichkeiten aus der Bundesrepublik. Auch Wolfgang
Kraus war unter den Teilnehmern. Obwohl bemängelt wurde, dass das Gespräch
„nicht mit logischer Disziplin geführt“ wurde, hob man Reich-Ranicki in Berich-
ten positiv hervor, da er „aus allen guten und schlechten Formulierungen seiner
Partner Kapital schlug“. Kraus setzte die Subjektivität des Kritikers voraus und
fand, dass die Literaturkritik sich „am dissonanten Konzert der vielen Stimmen“
erfreuen solle, da die „Vielstimmigkeit des literarischen Lebens [...] das Leben-
dige“197 sei.
Unter der Leitung von Friedrich Heer fand im Großen Festsaal der Universität
Wien am 21. Oktober 1966 anlässlich des Erscheinens des ersten Bandes der
Anthologie Dichtung aus Österreich im Österreichischen Bundesverlag eine Prä-
sentation und Diskussion statt, an der die Herausgeber des Bandes teilnahmen.
196 Vgl. Die Presse, 21. Februar 1964.
197 Vgl. St.: Auch die Kritiker sind sich nicht einig. In: Arbeiter-Zeitung, 30. Oktober 1964, S. 8.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 135
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437