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„Staatsnation im Werden“ sei. Norbert Leser, der im Publikum saß, bemerkte,
dass die „historische Gewissensforschung“ des Österreichers ausgeblieben sei,
und Butschek wies auf den großen Nachholbedarf an liberalem Geist und ech-
ter Toleranz im Land hin. Vogt, der als „‚Enfant terrible‘ des Abends […] alles
geschichtliche [sic] unter den Tisch fegen und die Entwicklung mit dem Jahre
1950 beginnen lassen wollte“, wurde von Schulmeister, der „von der Zukunft
Österreichs überzeugt“ war, entgegnet, „mit uns beginnt die Zeit null, das glaubt
jeder, in seinem Alter merke man jedoch dann“, dass dem „doch nicht so“204 sei.
Ein Requiem für die österreichische Literatur
Neun Jahre nach Gründung der ÖGL dürfte sich aber an der Situation der öster-
reichischen Literatur nichts verbessert haben, folgt man Hans Weigel, weshalb
die 1970er Jahre mit einem „Totengedenken“ eingeleitet wurden: Weigel hielt am
15.
Oktober 1970 einen Vortrag mit dem Titel „Requiem für die österreichische
Literatur. Eine Abrechnung“, in dem er den „auf dem Felde der Literatur gefal-
lenen“,205 wie Paul Celan, Gerhard Fritsch, Marlen Haushofer und Herbert Zand
gedachte – der 1964 aus dem Leben geschiedene Konrad Bayer blieb dabei uner-
wähnt –, und mit der politischen Praxis der österreichischen Literaturförderung
abrechnete. Eigentlich hätte Unterrichtsminister Leopold Gratz (von 1970/71)
dem Vortrag beiwohnen sollen, denn „viele Wünsche und Beschwerden […]
richteten sich direkt an das Ressort des Ministers“.206 Da Gratz krankheitshalber
ausfiel, musste auch ein Programmpunkt ausfallen, der „so hatte man in Litera-
tenkreisen gemunkelt, einen abschließenden Knalleffekt hätte bescheren sol-
len“.207 Denn Minister Gratz hätte seine „Förderfreudigkeit dekretieren und somit
höchstes amtliches Verständnis für die Notlage der heimischen Literatur an den
Tag“208 legen sollen, deren Erfolge (man denke an Thomas Bernhard und Peter
Handke) in deutschen Buchhandlungen und an Bühnen der Bundesrepublik
keineswegs über „ihre triste Förderungssituation hinwegtäuschen“209 könnten.
Weigel kritisiert, dass die „mehr oder weniger“ jungen österreichischen Auto-
rinnen und Autoren, die sich nach Deutschland hin orientierten, Gefahr laufen,
in das Spiel der „verschiedenen linken Richtungen in Redaktionen, Sendern und
Dramaturgien eingeschaltet zu werden“ und schlussfolgerte, dass man als Schrift-
204 Ebd.
205 Vgl. Wochenpresse, 21. Oktober 1970.
206 Ebd.
207 Ebd.
208 Ebd.
209 Ebd.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 137
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437