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Institutionelle Rahmenbedingungen
Zu Beginn der 1960er Jahre war eine großangelegte Rückholung der Emigran-
tinnen und Emigranten unter kulturpolitischen Aspekten immer noch höchst
problematisch und kompliziert, da sich die österreichische Kulturpolitikskultur
– wie Robert Musil diese in den 1930er Jahren bezeichnete,289 womit das Moment
der Kontinuität in den Mittelpunkt rückt – zur Demonstration ihrer erst weni-
ge Jahre zurückliegenden staatlichen Souveränität auf eine „Österreich-Idee“
berief, die ihre ideologische Realisierung im katholischen Ständestaat gefunden
hatte.290
Wie sehr sich Österreich in seine „Opferrolle“ verstrickt hatte, zeigt etwa der
Umgang mit dem am 15. April 1961 begonnenen Prozess gegen den SS-Ober-
sturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem. Es wurde abgestritten, dass
Eichmann, einer der Hauptverantwortlichen für die Ermordung von mehreren
Millionen Jüdinnen und Juden, Österreicher gewesen sei. Nach wie vor galt:
„Österreich war das erste Opfer der nationalsozialistischen Expansion – die Nati-
onalsozialisten, das waren die Deutschen.“ Diese Opfer-These vertraten nicht
nur politische Opportunisten, sondern auch die Verfolgten des NS-Regimes,
worauf etwa Elisabeth Röhrlich hinweist.291 Mit der allmählichen Auflösung der
politischen Lager in den 1960er Jahren ging mit der Gründung des Dokumen-
tationsarchivs des österreichischen Widerstandes (1962), des Institut für Zeit-
keine jüdischen Emigranten anzubieten hatten, […] war nicht mehr aufzuhalten. Die ‚Strudl-
hofstiege‘ machte Furore, und jüdische Emigranten, die ihre Verbundenheit mit dem neuen
Österreich bekunden wollten, wie zum Beispiel Hilde Spiel und Hans Weigel, traten für Dode-
rer, den eingefleischten Antisemiten, ein und wurden von ihm nicht nur akzeptiert, sondern,
auf Gegenseitigkeit, als Beweis seiner Bedeutung gegenüber Thomas Mann und Bert Brecht
gefördert. Er war der Triumph der rechten gegenüber der linken Clique.“ Hermann Hakel:
Dürre Äste, Welkes Gras. Begegnung mit Literaten. Wien: Lynkeus-Verl. 1991, S. 142.
289 Vgl. Schmid: Die falschen Fuffziger. In: Aspetsberger, Frei, Lengauer (Hg.): Literatur der Nach-
kriegszeit und der fünfziger Jahre in Österreich, S. 19.
290 Vgl. Joseph McVeigh: Kontinuität und Vergangenheitsbewältigung in der österreichischen
Literatur nach 1945. Wien: Braumüller 1988 (= Untersuchungen zur österreichischen Literatur
des 20.
Jahrhunderts 10), S. 4. McVeigh verweist darauf, dass die „Kontinuität“ zum Ständestaat
große kulturpolitische Bedeutung für die österreichische Literatur nach 1945 hatte und die
„offizielle Rehabilitierung der nichtemigrierten Literatur“ zum „integralen Bestandteil der pat-
riotischen Kulturpolitik“ der Zweiten Republik gehörte; Vgl. Amann: Men for all Seasons,
S. 219–222; Karl Müller: Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der literarischen Antimoder-
ne Österreichs seit den 30er Jahren. Salzburg: Otto Müller 1990; ders.: Zur Kontinuität öster-
reichischer Literatur seit den dreißiger Jahren. In: Stadler (Hg.): Kontinuität und Bruch, S.
181–
215.
291 Elisabeth Röhrlich: Kreiskys Außenpolitik. Zwischen österreichischer Identität und internati-
onalem Programm. Göttingen: V&R Unipress 2009, S. 174; vgl. dazu auch Rathkolb: Die para-
doxe Republik, S. 38 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 159
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437