Seite - 162 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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nach dem Abzug der Russen hätte es geschehen sollen, und zwar mit Angeboten
von Wohnungen und Villen.“300
Es war nicht nur kulturelle Nostalgie und ein verstärktes Unrechtsbewusst-
sein bezüglich der durch die NS-Diktatur Vertriebenen, sondern auch eine Fra-
ge der Kontakte, die Kraus pflegte. So dürfte ihm etwa John Beer, der beim Ver-
lag Heinemann & Zsolnay in London arbeitete und zu den profundesten Kennern
des europäischen Buchhandels zählte, über die kulturelle Situation der Exilanten
in England Aufschluss gegeben haben. Der gebürtige Tschechoslowake Beer war
1939 nach England emigriert, wo er eine Bäcker- und Bankenlehre absolvierte
und von Paul Zsolnay zu seinem Assistenten im William Heinemann LTD-Ver-
lag in London gemacht wurde. Zwischen 1950 und 1952 hielt er sich im Wiener
Zsolnay-Verlag auf, wo er und Kraus einander kennengelernt haben dürften.
Nach Zsolnays Tod 1961 wurde Beer „Managing Director“ von Zsolnay-Heine-
mann und wechselte 1970 in den Privatverlag Ernest Benn, den er bis 1984 lei-
tete.
Im Folgenden soll die Integration jener Emigrantinnen und Emigranten ins
literarische Feld Österreichs näher dargestellt werden, die 1938 nach England
exiliert waren. Eine genauere Darstellung würden auch die Beziehungen, die via
ÖGL zur Exil-Germanistik in den USA geknüpft wurden, verdienen. Dies muss
jedoch aufgrund des Fokus auf den englischen Kreis in diesem Kapitel unterlas-
sen werden.
Eine zentrale Vermittlerrolle kam dem ungarischen Theaterwissenschaftler
und Schriftsteller Martin Esslin zu, der 1938 über Brüssel ins englische Exil
geflüchtet war und in den 1960er Jahren die dramatische Abteilung der British
Broadcasting Corporation leitete, bevor er eine akademische Karriere einschlug
und an der Universität Stanford lehrte. Mit der ÖGL, so Esslin, war „zum ersten
Mal ein aktives Interesse an der literarischen und intellektuellen Emigration
sichtbar, zum ersten Mal gab es so etwas wie eine Institution, die nicht nur den
Willen, sondern auch die Mittel hatte, abgerissene Verbindungen herzustellen“,301
wobei er hierbei Kraus’ Persönlichkeit eine wesentliche Rolle zuschreibt.
Er half Kraus dabei, Kontakte zum Exilanten-Kreis in London herzustellen
und organisierte am 7. März 1962 „jenes Mit[t]agessen mit Fried, das die Basis
dieser Verbindung“302 mit der ÖGL war. Über Esslin kam auch der Kontakt mit
Elias Canetti zustande sowie die Verbindung zu den Literaturwissenschaftlern
Walter H. Sokel und Egon Schwarz in den USA. Esslin bedankte sich bereits
1962 überschwänglich bei Kraus, „dass Sie mir und so vielen anderen ehemali-
300 Ders.: Tagebuch, 6. Mai 1980, ebd.
301 Martin Esslin: Wolfgang Kraus und die Emigranten. In Bassola, Kiss (Hg.): Literatur als Brü-
cke zwischen Ost und West, S. 41–43, hier S. 41.
302 Ders. an Wolfgang Kraus, 23. Dezember 1996, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
162 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437