Seite - 166 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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den Abdruck von Frieds Gedichten aus dem Zyklus Wanderung (1947) in „Wort
in der Zeit“311 ablesen lässt: „Bei Erich Fried, beim großen Gedicht in [Wort in
der Zeit], Juniheft, bei der Lesung, die ich heute zufällig gehört habe, stimmt etwas
nicht. Auch wenn ich diese Prosa, v[on] d[en] Engl[ändern] Lyrik genannt, anneh-
me, zuviele unechte Töne sind dabei, zuviel Laborgeruch, Englischer Labor [d. i.
die Labour-Party].“312 Der von Henz geäußerte ideologische Verdacht ist insofern
erstaunlich, ruft man sich ins Gedächtnis, dass Fried seit 1952 seinen Lebensun-
terhalt als Kommentator beim „German Soviet Zone Programme“ der BBC ver-
diente und „als überzeugter, aber ‚unorthodoxer Sozialist‘ (Marxist) nicht nur den
Terror Stalins und von dessen ‚Nachlaßverwaltern‘, sondern in toto auch den ideo-
logischen Führungsanspruch der kommunistischen Machtzentrale in Moskau und
die (kultur-)politischen Verkrustungen in den ‚Ostblockstaaten‘, vor allem in der
Deutschen Demokratischen Republik“,313 kritisierte.
Von Fried lagen damals erst, neben der antifaschistischen Lyrik Deutschland
(1944) und Österreich (1945), drei selbständige Publikationen vor, die alle bei
Claassen erschienen waren: Gedichte (1958), der Roman Ein Soldat und ein Mäd-
chen (1960) sowie die Zyklensammlung Reich der Steine. Für Kraus und Fried
dürfte ihre unterschiedliche politische Sozialisation durchaus ein wichtiges The-
ma gewesen sein, wie sich dem Briefwechsel entnehmen lässt. Fried weist auf
den Milieuunterschied hin, ohne dass er dabei die Rolle des Exilanten für sich
beanspruchen musste und fand es unvermeidlich, dass die politischen Ansich-
ten divergierten:
Solche Verschiedenheiten der Auffassung oder sogar der Art[,] wie man auf etwas
reagiert[,] müssen einen aber nicht enttäuschen, kein Element des Fremdseins in
die Beziehung zwischen zwei Menschen bringen, sondern können im Gegenteil
auch beide bereichern. […] Deshalb musst Du verstehen, dass ich in der Wahl mei-
ner Freunde für Dich nicht schockierend sein darf, wenn diese Freunde auch Leu-
te umfassen, die in Österreich vielleicht noch als schwarze Bestien gelten. Was Ernst
Fischer betrifft, so meine ich ja sogar, dass z. B. Wort in der Zeit oder auch die
Gesellschaft für Literatur vielleicht gelegentlich durch einen Artikel oder einen
Vortrag von ihm, falls er das will, an Durchschlagkraft in östlichen Ländern soviel
gewinnen, dass eigentlich auch das Ministerium sich gar nicht fürchten müsste,
eine solche Politik gegen interne Missverständnisse zu verteidigen.314
311 Vgl. Wort in der Zeit, 8 (1962), H. 6, S. 15–22.
312 Rudolf Henz: Tagebuch, 20. Juni 1962, NL RH.
313 Volker Kaukoreit: Vom ‚Heimkehrer‘ zum ‚Palastrebellen‘? – Ein Protokoll zu ‚Erich Fried
und die Gruppe 47‘ (1963–1967). In: Stephan Braese (Hg.): Bestandsaufnahme: Studien zur
Gruppe 47. Berlin: Schmidt 1999 (= Philologische Studien und Quellen 157), S. 115–154,
hier S. 116.
314 Erich Fried an Wolfgang Kraus, 27. August 1963, ÖGL-Archiv.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
166 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437