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Elias Canetti
Der berühmteste „Schützling“ der ÖGL sollte Elias Canetti werden: „Bis 1962
kam niemand auf die Idee, mich nach Wien einzuladen“,317 gab dieser anlässlich
der Feier zum zehnjährigen Jubiläum der Gesellschaft in einem Interview zu
Protokoll. Nachdem ihn Kraus im Frühjahr 1962 im Londoner Vorort Hamps-
tead besucht hatte, kam im Februar 1963 die erste Lesung zustande: „Seither war
ich oft da und es gibt so etwas wie ein Publikum, das zu mir kommt. Die Gesell-
schaft für Literatur hat für mich etwas ganz Entscheidendes getan, was Öster-
reich betrifft.“318
Für den 1905 in Rustschuk (heute: Russe, Bulgarien) geborenen Canetti blie-
ben Wien und die deutsche Sprache seit seiner Kindheit prägend. Zu seinen lite-
rarischen Vorbildern zählten Karl Kraus, Robert Musil und Hermann Broch.
Die Rezeption und Verbreitung seines ersten und einzigen (veröffentlichten)
Romans Die Blendung (1935) blieb durch die politischen Ereignisse in Deutsch-
land eingeschränkt, und der „Anschluss“ setzte einer beginnenden Rezeption
ein Ende. Canetti war 1941 ins Londoner Exil gegangen; der Roman wurde
schließlich durch die englische Übersetzung 1943 bekannt und erhielt 1949 den
„Prix International“ für den besten ausländischen Roman. Eine in den Nach-
kriegsjahren erschienene Ausgabe im Münchner Willi-Weismann-Verlag (1948)
blieb ohne Echo in Deutschland, erst mit der Veröffentlichung im Hanser-Ver-
lag 1963 erfuhr Canettis Werk breitere Rezeption und der Verlag setzte im ers-
ten Jahr 5.400 Exemplare ab. Kraus hatte bereits zuvor mit ihm Kontakt aufge-
nommen und schrieb im März 1962: „Die Nachmittagsstunden bei Ihnen werden
mir immer in Erinnerung bleiben, und ich möchte […] mir erlauben, Sie für
den kommenden Herbst ganz konkret einzuladen. […] Es gibt eine ganze Reihe
von Autoren der jüngeren Generation, die sich sehr freuen würden, Sie kennen-
zulernen und denen Sie sehr viel geben könnten. […]“319 Canettis erste Ehefrau
Veza teilte Kraus im April 1962 mit: „Canetti hat sich mit der Einladung gefreut
und noch mehr mit Ihrem Brief. Es fehlt ihm hier ein Kreis hochgeistiger junger
Leute, die seine Sprache sprechen“320
Die erste Lesung Canettis, die für Herbst 1962 geplant gewesen war, musste
verschoben werden, da im September die englische Ausgabe seines Opus Mag-
317 Gotthard Böhm: Der optimistische Elias Canetti. In: Die Presse, 24./25./26. Dezember 1971.
318 Ebd.; in einem Widmungsexemplar von Canettis Die gerettete Zunge hat er denn auch einge-
tragen: „Für Dr.
Wolfgang Kraus, der 1962 als Erster nach London kam, um mich in die öster-
reichische Literatur zurückzuholen, sehr herzlich von Elias Canetti“; und in der 1963 erschie-
nenen Komödie der Eitelkeit: „Dr.
Wolfgang Kraus, der mir Wien wieder zur Gegenwart gemacht
hat, in herzlicher Dankbarkeit“, NL WK [Kopie].
319 Wolfgang Kraus an Elias Canetti, 27. März 1962, ÖGL-Archiv.
320 Veza Canetti an Wolfgang Kraus, April 1962, ÖGL-Archiv.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
168 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437