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Paul Celan
Eine lange Geschichte des Scheiterns verbindet sich mit der Einladung des Lyri-
kers und Übersetzers Paul Celan. Der 1920 in Czernowitz (Bukowina) geborene
Lyriker erlebte die NS-Verfolgung unmittelbar, seine Eltern wurden im KZ ermor-
det und er selbst war 1942 in einem rumänischen Arbeitslager interniert wor-
den, aus dem ihm die Flucht gelang. Nach 1945 lebte er als Lektor in Bukarest
und hielt sich 1947 kurz in Wien auf, wo er Kontakte zur literarischen Szene
knüpfte. 1948 erfolgte die Übersiedelung nach Paris, die nicht nur die Flucht vor
dem totalitären Regime im Osten bedeutete, sondern auch Ausdruck seiner
widersprüchlichen Distanz zur deutschen Kultur war. Dort wählte er 1970 den
Freitod. 1960 erhielt er den Georg-Büchner-Preis, die politische Dimension sei-
ner Texte war lange nicht erkannt worden, und mit Österreich verband ihn eine
problematische Beziehung, was sich auch in seiner Haltung gegenüber der ÖGL
widerspiegelt.
Kraus lud Celan im Namen des Unterrichtsministeriums für zwei Wochen
nach Wien ein und schlug ihm gleichzeitig ein Buchprojekt vor, für das Celan
die Herausgeberschaft übernehmen sollte: „Wir haben die Absicht, mit einer
nicht unerheblichen Subvention des Unterrichtsministeriums eine Anthologie
Lyrik der jungen Generation aus Österreich zu veranstalten, wobei wir auf das
reiche und sehr erfreuliche Material, das sich für den vergangenen staatlichen
Förderungspreis für Lyrik angesammelt hat, zurückgreifen können.“343
Die Anthologie sollte im Otto-Müller-Verlag erscheinen und Celan sollte
die „Patronanz über diese Sammlung“ übernehmen, „wobei die Form einer
solchen Verbindung, die Sie nicht zu sehr belasten dürfte, noch gefunden wer-
den muss.“344 Celan lehnte ab, weil er sich „bereits vor Jahren eingestehen [habe]
müssen, dass ich die bei einer solchen Aufgabe vorauszusetzenden Kriterien
nicht ganz verantworten“345 könne. Kraus reiste im März 1962 nach Paris, Celan
schrieb am selben Tag einen Brief, in dem er sich darüber beschwerte, dass
sein Name in Presse und Rundfunk in Zusammenhang mit der Anthologie
genannt worden war, dabei habe er es bereits in einem Brief vom 26. Jänner
1962 „prinzipiell abgelehnt, irgendeine Herausgeberschaft oder Mitherausge-
berschaft“346 zu übernehmen. Celan verweigerte sich auch einem Treffen mit
Kraus.347
343 Wolfgang Kraus an Paul Celan, 23. Jänner 1962, ÖGL-Archiv.
344 Ebd.
345 Paul Celan an Wolfgang Kraus, 26. Jänner 1961. Zit. n. Barbara Wiedemann: Der Blick von
Paris nach Osten. In: Peter Goßens, Marcus G. Patka (Hg.): ‚Displaced‘. Paul Celan in Wien,
1947–48. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 139–153, hier S. 145.
346 Paul Celan an ÖGL, 8. März 1962, ÖGL-Archiv.
347 Vgl. Wolfgang Kraus an Gerhard Moissl, 1962, ebd.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
174 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437