Seite - 175 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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An Reinhard Federmann, den Herausgeber der „Pestsäule“, schrieb Celan im
Februar 1962: „Was die angeblich von mir herausgegebene österreichische Antho-
logie betrifft, so kann ich Dir dazu nur mitteilen, daß ich alter Austriake (und
somit Nichtösterreicher) diesen so ehrenvollen Auftrag in einem dies – (und
jenes) – bezüglichen Brief an den Doktorkraus [d. i. Wolfgang Kraus] höflichst
und ausdrücklichst abgelehnt habe. Alle diese Schlangeneier legenden Enten.“348
Eventuell war Celan bewusst, dass hier sein Name für ein staatlich geförder-
tes Projekt benutzt werden sollte. Die Lyrikanthologie, herausgegeben von Fritsch,
Kraus, Hans M. Loew und Zand, erschien 1963 unter dem Titel Frage und For-
mel. Gedichte einer jungen Generation und wurde im Dezember in der ÖGL prä-
sentiert.
Die ÖGL blieb jedoch hartnäckig und bot Celan weiterhin an, nach Wien zu
kommen. Otto Breicha besuchte Celan 1965 in Paris, aber dieser kam trotzdem
nicht zu einer Lesung. Noch 1965 versucht Breicha brieflich, nachdem geplant
worden war, Celan an drei aufeinanderfolgenden Abenden mit Lyrik sowie Über-
setzungen aus dem Französischen und Russischen auftreten zu lassen, ihn nach
Wien zu locken. Breicha äußert jedoch, ebenso wie Kraus, Bedenken, „nämlich
dass das Publikumsinteresse, wie wir es wünschten, für drei Abende nicht vor-
hält, was immer wir für die Vertragsfolge an zusätzlicher Propagierung unter-
nehmen“.349 Erst über einen Monat später antwortet Celan, dass er sein „Aner-
bieten“, im Rahmen einer Veranstaltung zu lesen, zurücknehme.350
Ein letzter Versuch wurde im März 1968 unternommen, und Celan stimmte
dieses Mal zu. „Ich komme gern nach Wien“,351 meinte er, erbat sich aber mehr
Zeit. Neuerliche Anfragen und Vorschläge den Termin der Lesungen betreffend
blieben ohne Ergebnis; erst im März 1968 erklärte sich Celan bereit, einen kon-
kreten Termin für den Herbst desselben Jahres ins Auge zu fassen, bestätigte am
23.
April: „Einverstanden mit dem zweiten Oktober – ich komme gern, lese gern.
Ich freue mich auf die Lesung in Wien.“ Celan wollte vom 30. September bis
4.
Oktober in Wien blieben, 2.000 Einladungen wurden für die Lesung am 2.
Okto-
ber, die im Palais Pálffy hätte stattfinden sollen, verschickt. Celan kam schlus-
sendlich jedoch nicht, ohne Absage, was Kraus veranlasste, von einem „Schiff-
bruch dieses Abends“352 zu sprechen. Milo Dor betonte in einem Nachruf das
348 Paul Celan an Reinhard Federmann, Paris, 23.
Februar 1962 In: Briefe an Reinhard Federmann.
In: Die Pestsäule, 1 (1972), H. 1, S. 17–21, hier S. 18 f.
349 Otto Breicha an Paul Celan, 6.
September 1965, ÖGL-Archiv. Bereits 1964 war Celan aus dem
österreichischen PEN-Club ausgetreten. Vgl. John Felstiner: Paul Celan. Eine Biographie. Mün-
chen: C. H. Beck 1999, S. 285.
350 Paul Celan an Otto Breicha, 9. Oktober 1965, ÖGL-Archiv.
351 Paul Celan an Wolfgang Kraus, 3.
Oktober 1968. Zit. n. Wiedemann: Der Blick von Paris nach
Osten. In: Goßens, Patka (Hg.): ‚Displaced‘, S. 149.
352 Wolfgang Kraus an Paul Celan, Wien, 3.
Oktober 1968. Zit. n. Wiedemann: Der Blick von Paris
nach Osten. In: Goßens, Patka (Hg.): ‚Displaced‘, S. 149.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 175
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437