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Cvijić sowie viele Freunde, die während der Säuberungswellen des Stalinismus
ermordet wurden, finden sich später als Figuren in seiner Roman-Trilogie Wie
eine Träne im Ozean wieder.358 1934 flüchtete er nach Paris, um dort u. a. mit Art-
hur Koestler für das im Auftrag der Komintern gegründete „Institut zum Studium
des Faschismus“ (INFA) zu arbeiten. Mit dem Beginn der Moskauer Schaupro-
zesse ab 1937 begann Sperber, eine kritische Distanz zur KP aufzubauen, mit der
er nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 vollends brach. Dies entsprach aufgrund der
damaligen geopolitischen Verhältnisse einem „Sprung ins Nichts“, da der Zwang
vorherrschte, sich entweder dem Faschismus oder dem Kommunismus stalinis-
tischer Prägung zuzuordnen. Der aus der Theologie stammende Begriff des „Rene-
gaten“, der Sperber in der Folge zugeordnet wurde, war, wie Michael Rohrwasser
festgestellt hat, problematisch, da dieser ein Kampfbegriff des stalinistischen Lagers
war: Der Renegat wird dadurch mit dem faschistischem Lager verbunden und als
ein Überläufer, Verräter und Werkzeug der Faschisten denunziert.359
1938 wurde Sperber Mitarbeiter von Willi Münzenbergs Zeitschrift „Die
Zukunft“. Im September 1942 flüchtete er in die Schweiz, lebte in Zürich und
kehrte 1945 nach Paris zurück, wo er als Schriftsteller und Lektor lebte. Im
renommierten Verlag Calmann-Lévy war er als Herausgeber und auch Leiter
des fremdsprachigen Sektors tätig. Kraus erinnert sich an seinen ersten Besuch
1960 in Paris, wo Sperber ihn „in einem über eine besondere Stiege erreichba-
ren dunklen Raum, der mit viel Plüsch, mit Fauteuils und einem Divan luxuri-
ös ausgestattet war“,360 empfing. Sperber schrieb zweisprachig, er konnte sich
vom Deutschen nicht lösen, verfasste Romane in Deutsch und Essays in Fran-
zösisch.
Er lag, wie Gerald Stieg feststellt, auf der Wiener Linie, wo zwar ein „syste-
matische[r] Kommunismusverdacht“361 gegenüber ideologisch Verdächtigen,
aber nicht gegen Renegaten herrschte.
Bis zu seiner umstrittenen Friedenspreisrede 1983 blieb die Klärung von Sper-
bers „linker“ Position dessen Hauptanliegen. Sperber war darüber hinaus Grün-
358 Vgl. Claudia Sternberg: Ein treuer Ketzer. Studien zu Manès Sperbers Romantrilogie „Wie eine
Träne im Ozean“. Stockholm: Almqvist & Wiksell International 1991.
359 Vgl. Michael Rohrwasser: Manès Sperber, die Renegaten und das „No Man’s Land“. In: Corbin,
Le Rider, Müller-Funk (Hg.): Der Wille zur Hoffnung, S. 127–145; Tony Judt hat hinsichtlich
dieses Bekenntniszwangs konstatiert: „In Stalins politischer Welt gab es keine politischen Dis-
kussionen, sondern nur Ketzer, keine Kritiker, nur Feinde, keine Irrtümer, nur Verbrechen.“
Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. Frankfurt/M.: Fischer 2009, S. 221.
360 Wolfgang Kraus: Manès Sperber und Wien. In: Stéphane Mosès (Hg.): Manès Sperber als Euro-
päer. Eine Ethik des Widerstands. Berlin: Hentrich 1996, S. 36-49, hier S. 44.
361 Gerald Stieg: Manès Sperber im Kalten Krieg der französischen Intellektuellen. In: Wolfgang
Hackl, Kurt Krolop (Hg.): Wortverbunden – zeitbedingt. Perspektiven der Zeitschriftenfor-
schung. Innsbruck, Wien, Bozen: Studien-Verlag 2001, S. 207-218, hier S. 209.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 177
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437