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In der ersten Zeit nach der ÖGL-Gründung wurde sofort ein Kontakt zu Sper-
ber hergestellt, Kraus besuchte ihn in seinem Pariser Büro des Verlagshauses
Calmann-Lévy und schrieb in einem Brief, dass er sich „an die Stunde […]
immer erinnern“ werde und hoffe, „dass wir uns im Laufe der nächsten Jahre
noch oft begegnen und sprechen werden. Ich bin eben dabei, einen ausführli-
chen Artikel für die ‚Presse‘ über Ihr Werk zu schreiben, und je mehr ich mich
damit beschäftige, umso tiefer und weiter werden die Perspektiven, die sich mir
eröffnen.“367
Sperber wurde im März 1962 von P.E.N.-Club und ÖGL zu einer Lesung ein-
geladen. Er bemerkte gegenüber Kraus, dass er sich freue, den „Wiener Intellek-
tuellen wieder zu begegnen“ und nahm „jeden Vorschlag auf Begegnungen und
Diskussionen, den Sie mir machen werden[,] an.“368 Die Lesung musste jedoch
auf Juni verschoben werden, im Rahmen derer Sperber aus dem bis dahin unver-
öffentlichtem Roman Der schwarze Zaun las. Im Mai 1965 hielt er einen Vortrag
über „Karl Kraus oder das Unglück, ein Moralist zu sein“ und nahm im selben
Jahr an dem Round-Table-Gespräch „Unser Jahrhundert und sein Roman“ teil.369
Zwischen 16. und 20.
Jänner 1967 war er mit einer ganzen Vortragsreihe ver-
treten, die die ÖGL in Kooperation mit der Österreichischen Hochschülerschaft
und dem Philosophischen Institut der Universität Wien organisiert hatte. Zusätz-
lich nahm er im selben Monat an der ÖGL-Diskussion „Literatur und Politik“
teil und hielt zusätzlich noch einen Vortrag über „Macht und Ohnmacht der
Intellektuellen“. Im Februar 1970 trug er über „Alfred Adler oder das Elend der
Psychologie“ vor.
Am nachhaltigsten und folgenreichsten wurde Kraus aber gerade von einem
Exilautor angegriffen, nämlich dem 1935 geborenen Herbert Kuhner, Schrift-
steller, Übersetzer und Herausgeber österreichsicher Lyrikanthologien, weil die-
sem von der „Kulturkontaktstelle“ ein Reisestipendium nach Australien abschlä-
gig bescheinigt wurde, weshalb er eine mediale Kampagne gegen Kraus lostrat.
Kuhner, der 1963 aus dem US-Exil nach Wien zurückgekehrt war, veröffentlich-
te 1976 in der englischen Zeitschrift „Index on Censorship“ einen Text, der Kraus
und seine Förderungs- und Stipendienvergaben im Rahmen seiner Tätigkeit für
das Außenministerium in äußerst schlechtem Licht darstellte (vgl. dazu Kapitel
4.4). In Der Ausschluss. Memoiren eines Neununddreißigers (1988) hat Kuhner
diese Causa literarisch verarbeitet und den daran beteiligen Akteuren verklau-
sulierte Namen gegeben, so firmiert Kraus als „Dr. Laus“. Kraus war darüber
367 Wolfgang Kraus an Manès Sperber, 28. März 1962, ÖGL-Archiv.
368 Manès Sperber an Wolfgang Kraus, 5. April 1962, ÖGL-Archiv.
369 Vgl. dazu Ursula Ebel, Holger Englerth: Inszenierung: Ost Roman West. Das II. Round-Tab-
le-Gespräch der Österreichischen Gesellschaft für Literatur: „Unser Jahrhundert und sein
Roman“ (25.–27. Oktober 1965). In: Stocker, Rohrwasser (Hg.): Spannungsfelder, S. 67–97.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 179
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437