Seite - 181 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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Zu den Eingeladenen des „Forums“ im ersten Jahr zählten u. a. Fritz Hoch-
wälder, Johannes Urzidil, Franz Theodor Csokor, Lajos von Horváth (der Bru-
der Ödön von Horváths) sowie der Essayist Robert Jungk. Den Abschluss des
ersten Halbjahres machte der berühmte Kafkaforscher Walter H. Sokel von der
New Yorker Columbia University mit dem Vortrag „Der literarische Expressio-
nismus“. Seine Trennung des eigentlichen Expressionismus (Georg Trakl und
Kafka) von einem Vulgärexpressionismus (Walter Hasenclever und Ernst Toller)
gab Anlass zu Diskussionen.
Im zweiten Jahr besuchten bereits bis zu neunzig Schülerinnen und Schüler
bzw. Studierende der Germanistik die Veranstaltungen, der Schwerpunkt lag
neben einer Vertiefung des literarischen Expressionismus auf österreichischen
Autorinnen und Autoren der Gegenwart, wie Ilse Aichinger, Elias Canetti, Erich
Fried und Herbert Eisenreich, die mit den Jugendlichen über ihre Werke spra-
chen.
Im dritten Jahr war das „Forum“ bereits zu einer Institution geworden. Die
„Intensität des Gedankenaustausches, die Ergebnisse der Kontakte zwischen
Schriftstellern, Literaturwissenschaftern und jungen Menschen“374 wurde durch
Diskussionen aus dem Problemkreis „Realität und ihre schöpferische Umset-
zung“ gefördert, in die Fritsch und Eisenreich einführten. Am 6.
März 1964 star-
tete das „Kleine Seminar“ oder auch „Autorenseminar“ genannt, das auf zehn
bis fünfzehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer beschränkt war und dazu dienen
sollte „Spezialbegriffe einzuengen und fachgerechte Gespräche zu ermöglichen“.
Fritsch selbst führte mit Interpretationen und Stilanalysen in die Literaturwis-
senschaft ein. Wie einer Aussendung von Kurt Benesch zu entnehmen ist, ging
es beim ersten Seminar unter dem Titel „Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten
des Erzählens“ um die deutsche Prosa nach 1945: „Gschichtln, Texte, Muster –
an Hand bekannter und weniger bekannter Literaturbeispiele wird Gerhard
Fritsch versuchen, die Entwicklung der deutschen Prosa seit dem Krieg und
ihren gegenwärtigen Zustand zu interpretieren.“375
Vom zweiten „Autorenseminar“ am 7. April 1964, das ebenfalls Textinterpre-
tation behandelte, finden sich Spuren in Gerhard Fritschs Nachlass. Ein Protokoll
von Herbert Kraus und Karl Stuhlpfarrer ist erhalten geblieben und veranschau-
licht Fritschs Didaktik. Insgesamt legte er mehrere Prosatexte vor, darunter von
der Jugendbuchautorin Alma Holgersen, von Hans Henny Jahnn, Robert Musil,
Hermann Hesse und Hans Lebert. Die Tätigkeit der Lektüre sollte sich nicht mehr
auf die „Sondierung literarischer Begriffe stützen“, es ging „viel mehr um eine
Steigerung der Aufmerksamkeit beim Lesen, die durch detaillierte Analyse erreicht
374 Herbert Kraus: Forum der Jugend. In: Neue Wege 20 (November 1964), Nr. 187, S. 2.
375 Gerhard Fritsch: Ankündigung „Forum der Jugend“, NL GF, Archivbox 26.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Forum der Jugend 181
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437