Seite - 184 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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Willen nicht unterbringen, da sonst Publikum und Presse nicht länger mittun. Wie
Sie ja wissen […], geht das Bestreben unserer leitenden Herren dahin, den neuen
Zug in den Oststaaten für unsere Zwecke, d.h. für eine Heranziehung wirklich libe-
raler Kräfte in den Oststaaten auszunützen, und Persönlichkeiten den Besuch und
das Auftreten in Wien zu ermöglichen, die noch vor kurzer Zeit niemals eine Aus-
reisegenehmigung erhalten hätten.382
Diese Darlegung von Kraus lässt die ÖGL als Instrument der österreichischen
Außenpolitik erscheinen, deren Aufgabe es war, die kulturellen Kontakte in den
Osten zu knüpfen. Leitmotivisch war dafür die „Nachbarschaftspolitik“ von
Außenminister Bruno Kreisky, der diese einem historisch-geografischen Koor-
dinatensystem zugrunde legte. Die Lage und Geschichte Österreichs verband
das Land mit den sowjetischen Satellitenstaaten, was sozusagen die allzu offen-
sichtliche „Hintertüre“ war, welche die Etablierung von Kontakten im Osten,
vor allem auch in kultureller Hinsicht, möglich machte. Die ÖGL dürfte sich in
dieser Hinsicht auch mit der Wiener „Arbeitsgemeinschaft Ost“, ebenfalls eine
Gründung, die unter Heinrich Drimmel erfolgt war, koordiniert haben.383
Kreisky waren dabei vor allem bilaterale Beziehungen wichtig, jeder Staat
wurde in einer vorgegeben Weise speziell behandelt; es galt, „der Geschichte
jedes einzelnen Oststaates gewissenhaft Rechnung zu tragen, vor allem der
historischen Tatsache jahrhundertelanger Bedrückung, Unfreiheit und natio-
naler Unselbständigkeit“.384 Anders als der Ausdruck „Ostblock“ suggerierte
der von Kreisky verwendete Begriff „Satellitenstaaten“ keinen monolithischen
Block und bezog die traditionell-österreichische Vorstellung von Mitteleuropa
mit ein, was vor allem eine literarische Schöpfung aus den 1920 Jahren war.
Kreisky setzte für das kulturelle Imagedesign Österreichs bereitwillig auf Habs-
burgnostalgie; die Institutionen folgten dem bereitwillig, darunter auch die
ÖGL.
382 Wolfgang Kraus an Frank Zwillinger, 3. März 1964, ÖGL-Archiv.
383 Kraus an den jugoslawischen Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić, der mit seinem Roman Die
Brücke über die Drina (1961) eine historische Darstellung des mitteleuropäischen Raums unter
ottomanischer und österreichisch-ungarischer Herrschaft verfasst hatte: „Wie uns die ‚Arbeits-
gemeinschaft Ost‘ mitgeteilt hat, wurde von dieser Gesellschaft eine Einladung an Sie ausge-
sprochen was uns mit besonderer Freude erfüllt. Wir möchten uns erlauben, nach bereits
erfolgter Absprache mit der ‚Arbeitsgemeinschaft Ost‘, uns dieser Einladung anzuschliessen.
Ich darf erwähnen, dass unsere ‚Gesellschaft für Literatur‘ unter der Patronanz des Bundesmi-
nisteriums für Unterricht tätig ist, und dass es zu unseren wichtigsten Anliegen gehört, Kon-
takte zwischen den Autoren, und zwischen Autoren und dem Publikum herzlicher und ver-
ständnisvoller zu gestalten. Wir hoffen sehr, dass Sie uns die grosse Freude machen können,
nach Wien zu kommen.“ Wolfgang Kraus an Ivo Andrić, 15. Jänner 1962, ÖGL-Archiv.
384 Bruno Kreisky: Vier Regeln im Umgang mit Osteuropa. In: Österreich-Bericht 10 (1965), H.
33.
Zit. n. Röhrlich: Kreiskys Außenpolitik, S. 246 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
184 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437