Seite - 186 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
Bild der Seite - 186 -
Text der Seite - 186 -
nach Wien bringen“.389 Kraus nennt u. a. Tibor Déry, Julius Hay, František Lan-
ger, Stanisław Jerzy Lec, Zbigniew Herbert, Sławomir Mrożek, Stanisław Lem,
Eduard Goldstücker, Efim Etkind, Dimitrij W. Satonsky sowie Václav Havel, der
1965 einen Auftritt hatte. Diese Ost-Arbeit der ÖGL war durchaus von Erfolg
gekrönt, wie Kraus konstatierte, denn von „allen Besuchern aus dem Osten wird
mir immer wieder versichert, wie wichtig die Einladungen aus dem Westen für
sie sind“, und er sah sie als „eine wesentliche Stärkung des Prestiges für diese
Personen und eine Hilfe in ihrem Lande.“390
Die ÖGL profitierte dabei in ihrer Einladungspolitik östlicher Autorinnen
und Autoren vor allem vom sogenannten Tauwetter in der Sowjetunion, das mit
einer Entstalinisierungswelle, die 1961 mit dem XXII.
Parteitag der KPdSU ein-
herging, begleitet wurde. Die Ablösung Nikita Chruschtschows durch Leonid
Breschnew als Generalsekretär des Zentralkomitees 1964 führte in der sowjeti-
schen Kulturpolitik allerdings zu einem Rückschritt, der eine Auseinanderset-
zung mit dem stalinistischen Erbe unterband. Die anhaltende rigide Kulturpo-
litik führte in der Folge zu einer Welle der Emigration bzw. Ausweisung oder
Ausbürgerung, gleichsam einem „Aderlass der intellektuellen Elite“.391 So ver-
ließen u. a. Joseph Brodsky (1972), Alexander Solschenizyn (1974) und Lew
Kopelew (1980) das Land. Ein weiterer Nebeneffekt dieser rigiden Politik war,
dass in West und Ost oft nicht mehr das Werk einer Schriftstellerin bzw. eines
Schriftstellers im Zentrum stand, sondern dessen politische Position.
Kraus sorgte auch noch für zusätzliche Publicity seiner Gäste, indem er beim
Ministerium einen eigenen Preis vorschlug: „Unsere Idee war der ‚Österreichi-
sche Staatspreis für Europäische Literatur‘, der das lit[erarische]. Interesse und
die lit[erarische]. Kompetenz Österreichs über die Grenzen hinaus beweisen
sollte.“392 Wien kam durch die ÖGL nicht nur zu einer Position als Durchgangs-
station der exilierten östlichen Intelligenzija, wie etwa im Krisenjahr 1968, son-
dern war, „indem es Ausgangspunkt für viele Schriftsteller der ehemaligen Öster-
reichisch-Ungarischen Monarchie“ war, zumindest temporär ein „Zentrum des
literarischen Lebens in Österreich, in Mitteleuropa“.393
Bereits im Februar 1962 war ein Vortrag des jugoslawischer Nobelpreisträgers
Ivo Andrić angesetzt und im selben Monat eine Lesung jugoslawischer Lyrik in
389 Wolfgang Kraus: Rückblick und Stellungnahme. Zum dreißigjährigen Bestehen der „Österrei-
chischen Gesellschaft für Literatur“, 4. Dezember 1992, 8 Bl., hier Bl. 3.
390 Wolfgang Kraus an Shepard Stone, 23. Juli 1969, ÖGL-Archiv.
391 Klaus Städtke, Christine Engel (Hg.): Russische Literaturgeschichte. 2. akt. u. erw. Aufl. Stutt-
gart, Weimar: Verl. J. B. Metzler 2011, S. 353.
392 Wolfgang Kraus: Aus der Rede zum 20jgen Bestehen der Österreichischen Gesellschaft für
Literatur, Wien, 10. Dezember 1981, NL WK.
393 Bremer Nachrichten, 3. August 1968, Sammlung ÖGL, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
186 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437