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deutscher Übersetzung. Kraus begleitete Andrićs Werke mit Rezensionen.394 Im
Juni des Jahres waren geschlossen aus Warschau Stanisław Jerzy Lec, Roman
Karst und Witold Wirpsza angereist. Über Lec hat Kraus geschrieben, er sei „ein
Phänomen und ein Original“, „Pole und doch eigentlich Alt-Österreicher“, „Par-
tisan und Kommunist (später freilich fiel er vom Kommunismus ab) und gleich-
zeitig ein Anhänger Franz Josephs, dessen Bild sein Arbeitszimmer zierte, was
man im Zentralkomitee wußte“.395
Der Literaturwissenschaftler Roman Karst, zu dessen Forschungsschwerpunk-
ten die deutsche Literatur des 19. und 20.
Jahrhunderts, darunter Heinrich Hei-
ne, Franz Kafka, Thomas Mann sowie Übersetzungen von Werken Friedrich
Dürrenmatts, Egon Erwin Kischs sowie Kafkas ins Polnische zählen, blieb Kraus
und der ÖGL ein Leben lang verbunden. Der 1911 in Tyczyn (Polen) geborene
und 1988 im Exil in Stony Brook (New York/USA) gestorbene Karst war jüdi-
schen Glaubens und zwischen 1939 und 1944 im Gulag interniert, bevor er von
der polnischen Volksarmee eingezogen wurde. Im Mai 1963 nahm er an der
Kafka-Konferenz in Schloss Liblice bei Prag teil,396 wurde 1967 aufgrund seiner
Solidarisierung mit Leszek Kołakowski aus der Polnischen Vereinigten Arbei-
terpartei ausgeschlossen und im 1968 Opfer antisemitischer Hetzkampagnen in
Polen, wodurch er seine Lehr- und Publikationsmöglichkeiten verlor. 1969
emigrierte er über Wien, wo er in der ÖGL Aufnahme fand, in die USA. 1967
erhielt er durch Kraus’ Vermittlung das „Österreichische Ehrenkreuz für Wis-
senschaft und Kunst, Erster Klasse“.
Im März 1963 fand ein Abend über bulgarische Lyrik statt, bevor mit dem
Auftritt des ungarischen Schriftstellers und Wortführers des „Ungarischen Volks-
aufstands“ 1956 Tibor Déry ein Höhepunkt folgte, der Kraus zufolge zu einer
internationalen Sensation geriet. Déry las aus der Novelle Rechenschaft, denn
dass er der Einladung der ÖGL „folgeleisten durfte, war bis zum letzten Augen-
blick kaum für möglich gehalten worden“,397 war er doch nach dem Scheitern
des Volksaufstands zu einer neunjährigen Haftstrafe verurteilt worden, aus der
er bereits 1960 entlassen worden war. Als Déry, dessen Werke in der Sowjetuni-
on noch bis 1962 verboten blieben, das Podium der ÖGL betrat,
394 Vgl. bspw. Wolfgang Kraus: Breites Epos östlicher Vergangenheit. Ivo Andrićs: „Wesire und
Konsuln“. Ein Roman des Nobelpreisträgers in deutscher Übersetzung. In: Hannoversche All-
gemeine Zeitung. 11./12. November 1961.
395 Vgl. ders.: Unsterbliche Satire. Zu Stanisław Jerzy Lec: Das große Buch der unfrisierten Gedan-
ken, ms. Ts., NL WK.
396 Vgl. Michael Rohrwasser: „Hier in Sibirien verstehen wir Kafka besser“. Frank Kafka und der
Kalte Krieg. In: Hansel, ders. (Hg.): Kalter Krieg in Österreich, S. 153–167.
397 Wolfgang Kraus: Aktualität und Zeitlosigkeit zugleich. Tibor Dérys erste Auslandsreise nach
Wien wurde zur internationalen Sensation, ms. Ts., NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 . 187
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437