Seite - 188 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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schlug ihm tosender Applaus entgegen […]. Tatsächlich gab es eine Überraschung
in Form einer in akzentlosem Deutsch mit leicht österreichischem Tonfall frei
gesprochenen Erklärung, in der er vorerst mit Charme meinte, er sei eigentlich ein
halber Österreicher, da seine Mutter eine Wienerin gewesen wäre und man in sei-
nem Elternhaus Deutsch gesprochen habe. Dann sagte Déry, er möchte nicht als
politische Figur, sondern in erster Linie als Schriftsteller und nach seiner Arbeit
bewertet werden.398
Bei einer Veranstaltung, die gemeinsam mit dem Wiener Burgtheater organisiert
wurde, trat im Mai 1963 der Dramatiker František Langer auf, und im Dezem-
ber desselben Jahres Hana Bělohradská, Jan Grossmann sowie Josef Nesvadba
aus der ČSSR. Während erstere aus ihren Werken auf Deutsch vorlasen, gab Nes-
vadba, seines Zeichens Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Psychiater,
einen Überblick über die zeitgenössische tschechische Literatur.
Im Jänner 1964 trat Julius Hay auf, der über zeitgenössische Dramatik sprach;
im Anschluss wurden Szenen aus drei seiner Theaterstücke, die noch vor der
Uraufführung standen, darunter Attilas Nächte und Das Pferd, durch Mitglieder
des Burgtheater-Ensembles als szenische Lesung aufgeführt. Kraus hat in einer
Besprechung von Hays Autobiografie Geboren 1900 festgehalten: „Immer gab es
Dramatik rund um Julius Hay, Ruhe fand er nirgends. Aus Berlin vertrieben ihn
die Nazis, aus Moskau, das die Deutschen fast eroberten, fuhr er nach Kasach-
stan, und als er nach Budapest zurückkehrte, wurde er bald mißliebig, schließ-
lich, als er zu den maßgebenden Kräften der Revolution von 1956 zählte, wieder
einmal ins Gefängnis gebracht. Nach der Begnadigung war er für alle östlichen
Bühnen gesperrt, und so emigrierte er 1965 in den Tessin.“399
Im November 1964 bildete polnische Lyrik seit 1956 den Schwerpunkt, als
Karl Dedecius und Zbigniew Herbert auftraten; eine Veranstaltung war der
Avantgarde der tschechischen und slowakischen Literatur gewidmet, es nahmen
der Schriftsteller Ladislav Mňačko, der Chefredakteur der Zeitschrift „Kultúrny
život“ und Jiří Hájek teil, der die Kulturzeitschrift „Plamen“ in Prag leitete. Sta-
nisław Jerzy Lec aus Warschau las „Neue unfrisierte Gedanken“ vor. Im Dezem-
ber 1964 folgten Dalibor Plichta und Jiří Kolář mit Vorträgen bzw. Lesungen
neuer tschechischer Dramatik und im Februar 1965 war Anatol E. Baconsky
gemeinsam mit Petre Stoica und Nina Cassian mit neuer rumänischer Lyrik im
Programm vertreten.
Im März 1965 folgte mit „Theater der Gegenwart – Gegenwart des Theaters“400
398 Ebd.
399 Wolfgang Kraus: Unser tragisches Jahrhundert. In: Darmstädter Echo, 17. September 1971.
400 Das Round-Table-Gespräch fand zwischen 22. und 24.
März 1965 statt, mit Grischa Ostrows-
ki (Bulgarien), Erwin Axer, Jan Kott, Sławomir Mrożek, Adam Tarn (Polen), Liviu Ciulei (Rumä-
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
188 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437