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das, so Pierre Bourdieu, „gewiß den sichersten und eindeutigsten Indikator für
die Position innerhalb des Feldes“ darstellt, da „er doch vortrefflich das Ausmaß
an Unabhängigkeit von der Nachfrage des ‚breiten Publikums‘ und den vom
Markt ausgehenden Zwängen […] bzw. das Ausmaß an Unterordnung unter
sie“405 misst, ergibt sich aufgrund der Gleichzeitigkeit von Strömungen im lite-
rarischen Feld nicht immer ein kohärentes Bild bzw. treten Widersprüche auf,
die hingenommen werden müssen.
Die ÖGL als Institution mag als feldbestimmende Instanz gewirkt haben, in
ihrem kulturpolitischen Rahmen waren ihr jedoch auch Grenzen gesetzt, da die
Ausdifferenzierungs- und Autonomisierungsprozesse des literarischen Feldes
in den 1960er Jahren jedenfalls aus literaturgeschichtlicher Perspektive zuneh-
mend von anderen Institutionen wie etwa dem „Forum Stadtpark“ ausgehend
erfolgte. Das Ensemble an Auftritten gehorcht dabei zwar Prinzipien der Kano-
nisierung, und die bisher eingeschränkte literaturwissenschaftliche Behandlung
der ÖGL dürfte auch daran gelegen sein, dass sie keinen Kreis von Schriftstel-
lerinnen und Schriftstellern hervorbrachte bzw. präsentierte, sondern eben mehr
als eine Art literarischer Salon fungierte.
Hinsichtlich ihrer Einladungspolitik war die ÖGL in den ersten fünf Jahren
ihres Bestehens noch der älteren Generation österreichischer Schriftstellerinnen
und Schriftsteller verpflichtet, wobei jedoch auch die Exilliteratur mit einge-
schlossen war. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre fand eine stärkere Öffnung
hinsichtlich der jüngeren Generation statt. Dem Pluralismus innerhalb der öster-
reichischen Literatur wurde ein Podium geboten, Ausgrenzungen erfolgten dem-
gemäß vor allem aus ideologischen Gründen, wie etwa bei Autorinnen und
Autoren, die der KPÖ nahestanden.
Die Allround-Aktivitäten der ÖGL beweisen sich nicht nur in der Veranstal-
tung von Diskussionen, die sich nachdrücklich der nationalen Identität widme-
ten, die hinsichtlich geschichtspolitischer Aspekte auch ihre Unschärfe hatten,
aber ebenso daran, dass auch die Jugend mit eigenen Programmschwerpunkten
versorgt wurde. Die Miteinbeziehung von Autorinnen und Autoren aus dem
Einzugsbereich der Sowjetunion ist innerhalb des ÖGL-Programms vor allem
als geschickter Schachzug der österreichischen Auslandskulturpolitik zu bewer-
ten, die im Rahmen einer österreichischen „Ostpolitik“ erfolgte. Es waren man-
nigfaltige Aktivitäten und Zielsetzungen, denen die ÖGL hier nachzukommen
bemüht war, und obwohl sie budgetär gut ausgestattet war, gerieten österreichi-
sche Autorinnen und Autoren, gerade in der Anfangszeit, eher ins Hintertreffen.
Anhand der Darstellung und Analyse einer solchen Institution des Literatur-
405 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Aus dem
Frz. übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001 (= stw 1539),
S. 345.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Resümee 191
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437