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akzentuiert wurde, das die österreichische Literatur von den politischen Verän-
derungen abhebt und in einen „Traditionszusammenhang“ hineinstellt, „den die
Vertreter der sogenannten österreichischen Idee nach dem Untergang der Habs-
burgermonarchie bis ins Zeitalter des Barock, anders gesagt, ins Österreich der
Gegenreformation und der siegreichen Türkenkriege“23 zurückverfolgten. Bei
der Konstituierung dieses Selbstverständnisses wurden Traditionen, die diesen
Projektionen nicht entsprachen, übergangen. Die Bezugnahme auf die Monar-
chie sowie das bewusste Anknüpfen an die Ära vor 1918 waren wesentlicher Teil
im Prozess der Identitätsfindung der Zweiten Republik, die sozusagen die Kehr-
seite der Medaille des „Vergessens“ von Ständestaat und NS-Diktatur war: „Im
übergeordneten Prozess der Nationswerdung nahm die ÖVP die dominierende
Position ein, auch und gerade wegen der Nutzung des Habsburg-Mythos.“24
Die Vertrautheit mit den Habsburgern wurde kulturpolitisch auch durch eine
Vielzahl von literarischen Publikationen verankert, die vom Unterrichtsminis-
terium finanziert und distribuiert wurden, darunter z. B. die Reihe „Das öster-
reichische Wort“ im Stiasny-Verlag oder die „Österreich-Reihe“ des Bergland-Ver-
lags, die eine „austriakische Renaissance“ mitformten, d. h. es wurde durch die
staatlich subventionierte Kulturpolitik der Versuch unternommen, „Österreichs
Kontinuität durch den Rückgriff auf weit zurückliegende Epochen, gleichsam
durch die Wiedergeburt des habsburgischen Erbes zu legitimieren“.25
Dabei spielte in Hinblick auf die Literatur vor allem ein Text eine zentrale
Rolle. In der mittlerweile klassisch gewordenen Studie Il mito absburgico nella
letteratura austriaca moderna (1963; dt.: Der habsburgische Mythos in der moder-
nen österreichischen Literatur, 1966) definierte der Triestiner Literaturwissen-
schaftler Claudio Magris den „Habsburg-Mythos“ als „Berufung auf eine Utopie
und wies die Entstehung dieses Bildes in den Werken österreichischer Schrift-
steller nach“, wobei er aber nicht für eine Restauration der Habsburger Monar-
chie plädiert, sondern eher den „Verlust der Größe, Harmonie und Stabilität, das
Ende einer idyllischen Welt, die mit dem Tod der Symbolfigur Franz Joseph ver-
schwunden war“,26 ins Zentrum rückte. Das affirmative Model des „habsburgi-
23 Walter Weiss: Dichtung und politisches System in Österreich seit 1945. In: Wolfgang Mantel
(Hg.): Politik in Österreich. Die Zweite Republik: Bestand und Wandel. Wien, Graz, Köln: Böh-
lau 1992, S. 884–891, hier S. 884.
24 Laurence Cole: Der Habsburger-Mythos. In: Emil Brix, Ernst Bruckmüller, Hannes Stekel (Hg.):
Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 2004,
S. 473–505, hier S. 485.
25 Dietmar Goltschnigg, Kurt Bartsch: Die österreichische Gegenwartsliteratur. Sozialgeschicht-
liche Voraussetzungen. Literaturbetrieb. In: Viktor Žmegač (Hg.): Die Geschichte der deutschen
Literatur, Bd. III/2, 1945–1980. 2. Aufl. Königstein/Ts.: Athenäum 1984, S. 695–719, hier S. 695.
26 Weiss: Dichtung und politisches System in Österreich. In: Wolfgang Mantel (Hg.): Politik in
Österreich, S. 885.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
200 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437