Seite - 202 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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Literatur ist weniger gesellschaftskritisch als die bundesdeutsche, da wir hier eine
lebendigere gesellschaftliche Kontinuität haben. Die Probleme treten weniger krass
zutage; der österreichische Schriftsteller denkt in weiteren Zeiträumen, er ist stär-
ker von der organischen Entwicklung getragen. […] Hier und weiterhin stelle ich
fest, daß Sie nicht unterscheiden zwischen dem Schriftsteller, der Literatur zur
Unterhaltung, Erbauung, Information und Belehrung produziert, und dem Dich-
ter, der Literatur als Kunst herstellt. Für letzteren, den Dichter also, bedeutet seine
Arbeit bereits ein Engagement, das so groß ist, daß er alle Fesseln, die ihm die
Gesellschaft anlegen kann, sprengen oder die Flucht ergreifen muß. Die Entschei-
dung zum Engagement gibt es also nur für den Schriftsteller, der aus Überzeugung
zum politischen Schriftsteller wird, der jedem System huldigt, oder aus Vorsicht
zum Schriftsteller, für den es Politik einfach nicht gibt.31
Einer Aufladung der Literatur mit politischen Inhalten stand Kraus affirmativ
gegenüber. Die innere Gemeinsamkeit der österreichischen Literatur sieht Kraus
hier in Anlehnung an Magris darin, dass allen österreichischen Autorinnen und
Autoren das „politische Engagement fremd“ sei: „Weder als Personen noch mit
ihren Werken, mischten sie sich in die Sphäre der Politik. Im Gegenteil, von
Oswald Wiener und Peter Handke, aber auch von vielen anderen, konnte man
deutliche Worte der Distanzierung hören. Eher liegt ihnen am effektvollen indi-
viduellen Auftritt“.32 Für Kraus stand solcher Individualismus, der sich in „Show-
business“ äußerte, seiner Vorstellung von Literatur entgegen. Eines seiner zen-
tralen Anliegen an die zeitgenössische Literatur war das Anknüpfen an eine
bestimmte historische Dimension.
Dies wird besonders deutlich, zieht man Kraus’ Rezension von Der habsbur-
gische Mythos in der modernen österreichischen Literatur heran. Magris habe mit
dieser Arbeit untermauert, so Kraus, dass es tatsächlich eine österreichische
Literatur gebe:
Für Magris bedeutet Österreich die geistige Vielfalt und doch merkwürdige Gemein-
samkeit innerhalb des alten Völkerstaates, die auf die deutsche Sprache bezogene
Verschiedenheit slawischer, ungarischer, romanischer Nationalitäten, deren Her-
kunft, Temperament und historischer Entwicklungsgrad heftigste Kontraste und
doch in ihrer sinnvollen Gruppierung um die Hauptstadt Wien ein einheitliches
Bild boten. […] Magris zieht den Kreis der österreichischen Literatur weit […].33
31 Ebd.
32 Wolfgang Kraus: Barock und Showbusineß. Über Literatur aus Österreich. In: Darmstädter
Echo, 16. Dezember 1970.
33 Wolfgang Kraus: Oesterreichs geistige Geographie. In: Die Presse, 10. Juni 1967.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
202 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437