Seite - 209 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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Aufschlussreich ist hier ein von Kraus verfasster Artikel aus den 1980er Jah-
ren mit dem Titel „Erste Antworten aus Büchern“, in dem er ins Gedächtnis rief,
welche Werke in den 1950er Jahren entstanden bzw. gelesen wurden. Bis auf
wenige Ausnahmen, wie z. B. Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann und Marlen
Haushofer, haben die genannten österreichischen Autorinnen und Autoren kei-
ne Aufnahme in den Kanon gefunden und sind vielmehr durch ihre Position
innerhalb des Literaturbetriebs im Gedächtnis geblieben. Mit dem US-ameri-
kanischen Schriftsteller Ernest Hemingway und Franz Kafka bezeichnet Kraus
den sich nach 1945 öffnenden Horizont zur literarischen Moderne, der erahnen
ließ, dass man während des Nationalsozialismus „in einer erschreckend vereng-
ten Welt gelebt hatte“, nur um dann mit seinem persönlichen Kanon der öster-
reichischen Literatur nach 1945 fortzusetzen:
Fritz Habeck veröffentlichte seinen ‚Tanz der sieben Teufel‘ über die Gerechtigkeit
der Geschichtsschreibung, seinen Kriegsroman ‚Das Boot kommt nach Mitter-
nacht‘, Herbert Zand den Roman einer Kesselschlacht ‚Letzte Ausfahrt‘, Herbert
Eisenreich ‚Die Einladung deutlich zu leben‘ und ‚Böse schöne Welt‘, Jeannie Ebner
‚Sie warten auf Antwort‘. Die damals jüngere Generation fand sich in den ‚Toten
auf Urlaub‘ von Milo Dor wieder, ebenso in Gerhard Fritschs bis heute immer noch
stärker werdenden Roman der Wiener Nachkriegszeit ‚Moos auf den Steinen‘, Ilse
Aichinger war mit ihrem schon 1948 veröffentlichten Roman ‚Die größere Hoff-
nung‘, Ingeborg Bachmann mit ihrer ‚Gestundeten Zeit‘ und der ‚Anrufung des
Großen Bären‘, Christine Busta mit ‚Lampe und Delphin‘, Marlen Haushofer mit
‚Eine Handvoll Leben‘ und der ‚Tapetentür‘ zumindest bei einer Leserschaft von
Kennern präsent.61
Kraus verweist natürlich auf die Romane Heimito von Doderers, die Dramen
Franz Theodor Csokors oder Friedrich Torbergs Roman Die zweite Begegnung
(1950), der in der Nachfolge jener antikommunistischen Texte wie Arthur Koest-
lers Darkness at Noon (1940) steht. Auch die „Wiener Gruppe“ wird genannt
sowie Oswald Wieners die verbesserung von mitteleuropa (1969). Ernst Jandl und
Friederike Mayröcker rangieren innerhalb von Kraus’ Perspektive in der litera-
rischen Konstellation der Nachkriegszeit als diejenigen, die in der Folge an die
experimentelle Literatur anknüpften, befindet jedoch, dass „das Spielhafte und
Anarchische der ‚Wiener Gruppe‘ eine Randerscheinung“62 gewesen sei und kon-
statiert, dass sich dies später geändert habe. Es ist eine vereinnahmende und
undifferenzierte Sichtweise auf die österreichische Literatur nach 1945, der Kraus
61 Wolfgang Kraus: Erste Antworten aus Büchern. Was in den fünfziger Jahren gelesen wurde. In:
Die Presse, 23./24. November 1985.
62 Ebd.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Kraus als Literaturvermittler 209
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437