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die organische Vermittlung des Vergangenen bereits mit einem neuen Vokabu-
lar, in einer für die jüngere Generation also begreiflichen Verarbeitung über-
nimmt“ und selbst so „schwer mitgenommen“ sei, dass sie kaum fähig sei, „sich
selbst zu tragen, geschweige denn irgendwelche Jüngeren“.69
An dieser Stelle stehen für Kraus Erich Fried, Herbert Zand, Hans Lebert,
Kurt Benesch, Ilse Aichinger, Gerhard Fritsch, Milo Dor und Reinhard Feder-
mann. Des Weiteren benennt er mit Ingeborg Bachmanns Das dreißigste Jahr
(1961), Marlen Haushofers Eine Handvoll Leben (1955) und Die Tapetentür
(1957), Karl Wawras Kindern Eintritt verboten (1959), Herbert Eisenreichs Auch
in ihrer Sünde (1953), Jeannie Ebners Wildnis früher Sommer (1958), Hannelore
Valencaks Die Höhlen Noahs (1961) sowie Humbert Finks Die engen Mauern
(1958) literarische Werke, über die er – und das gilt auch für die vorher genann-
ten Autorinnen und Autoren – als professioneller Leser und Kritiker Rezensio-
nen verfasst hat. Zusammenfassend hält Kraus hinsichtlich der Verfassung der
zeitgenössischen österreichischen Literatur fest:
Wenn man aber die heutige Literatur beurteilt, soll nicht vergessen werden, daß
der Schriftsteller vor Ansprüchen des Stoffes und des Themas steht, wie es sie bis-
her in der Geschichte nicht gegeben hat. Der partielle Weltuntergang zweier Krie-
ge und die moderne Zivilisation haben die Gesellschaftsform aufgelöst, die Welt
ist in der Phase eines kalten Krieges zweigeteilt, und eine solche Zweiteilung, eine
solche Gespaltenheit, eine solche Schizophrenie herrscht nicht nur auf der Ebene
der politischen Geographie und in der Politik überhaupt, sondern in vielfacher
Abwandlung meist auch in der psychischen Situation des Einzelnen. […] Man fin-
det in unserer Literatur viele sehr ernstzunehmende Ansätze, diese noch nie dage-
wesene Situation zu verarbeiten. Vergessen wir nie, uns selbst wenigstens ahnungs-
weise das Ausmaß dieser Situation klarzumachen, bevor wir darangehen, die
Schriftsteller von heute an ihren Vorfahren zu messen.70
Kraus’ Einteilung der österreichischen Literatur und ihrer Akteurinnen und
Akteure ist insofern problematisch, als er diese mit seinem Generationenkon-
zept sehr verkürzt darstellt und die Zeit zwischen 1934 und 1938, wo die von
Kraus’ apostrophierte „Kontinuität“ bereits aufgrund des Austrofaschismus zer-
bricht, ausblendet. Umso verwunderlicher ist aber, dass er etwa mit dem Roman
Himmelreich der Lügner (1959) von Reinhard Federmann eines jener singulären
Werke besprochen hat, die sich dieser Thematik annehmen. Günther Stocker
hat über den Roman, der diametral zur Geschichtsauffassung der 1950er Jahre
steht, festgehalten, dass dieser die österreichischen Epochengrenzen mit März
69 Ebd., S. 63.
70 Ebd., S. 65.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
212 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437